Das Buch des Vergessens
der Daguerreotypie sei sublimer als jedwedes Gemälde – und lässt dann zwei Jahre später nicht einen Daguerreotypisten, sondern einen Maler über Leben und Tod herrschen. Hawthorne macht 1837 aus dem Maler jemanden, der nicht an die normalen Gesetze von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gebunden ist – und überträgt dieses Mysterium 1851 ohne viele Umschweife einem Daguerreotypisten. Der Porträtmaler und der Fotograf, so scheint es, teilten nicht nur den Jargon und die Metaphern, sie leiteten auch ihr Prestige von derselben Magie ab: ein Gesicht dem normalen Lauf von Zeit und Leben zu entziehen.
Um 1860 waren die wichtigsten Argumente über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Malen oder Fotografieren eines Gesichts ausgetauscht. In manchen Kunstgenres war der Kampf definitiv verloren. Hier und da behauptete sich noch der eine oder andere Miniaturmaler beherzt, manchmal unter Hinweis auf das, was man ihm gerade vorwarf. Auf die besorgte Frage von Königin Viktoria an den berühmten Schweizer Miniaturmaler Chalon, ob er sich denn nicht bedroht fühle durch die Fotografie, antwortete der Polyglott: »Ah non, Madame, photographie can’t flattère.«
Anmerkung
Es sollte ihm nicht helfen: Mitte der Fünfzigerjahre wurde das Retuschieren erfunden. Auch das zweite ständige Argument, der Verlust von Farben und Halbtönen beim harten Schwarz-Weiß der Daguerreotypie, sollte allmählich an Bedeutung verlieren, erst durch das Einfärben, später durch die Erfindung der Farbfotografie.
Die Spannung zwischen dem fotografischen und dem gemalten Porträt ist nie verschwunden, auch wenn sich etwas in ihrem Verhältnis änderte. Schon bald entstanden Verflechtungen der beiden Genres, professionell, technisch und künstlerisch. Viele der brotlosen Miniaturmaler ließen sich von Fotografen anstellen, um Fotos einzufärben und zu retuschieren, und gaben damit ihrem Wunsch, gefallen zu wollen, eine neue Anwendungsmöglichkeit. Manchmal wurden Porträtmaler selbst zu Fotografen, häufig zu hervorragenden, weil ihnen ihr Malerauge bei Aufstellung und Belichtung zugutekam. Techniken wurden gemischt. 1863 entdeckte man ein Verfahren, mit dem man Fotos auf Leinwand abdrucken konnte, sodass der Porträtmaler über eine exakt gleiche Untermalung verfügte.
Anmerkung
Das führte zu einem neuen Genre, der ›Fotomalerei‹, die laut einem Leserbrief in einem fotografischen Fachblatt »die Verdienste fotografischer Präzision mit Raum für das Talent des Malers verband«.
Anmerkung
In dem Jahrzehnt nach 1860 wurde in Amerika das Genre der ›Tintypes‹ (Ferrotypen) populär: ein Kollodiumnegativ auf schwarzem Eisenblech, das vor dem dunklen Hintergrund den Eindruck weckte, das Positiv des Fotos zu sein.
Anmerkung
Diese ›Tintypes‹ wurden bemalt, wiederum von ehemaligen Porträtmalern. Das Ergebnis, wenn es erst einmal gerahmt war und an der Wand hing, war etwas zwischen einem Foto und einem Gemälde. Je nach Übergewicht der einen oder anderen Technik sah man ein Foto, das übermalt worden war, oder ein Gemälde, unter dem sich ein Foto befand, in beiden Fällen eine hybride Abbildung des Mannes oder der Frau, die Modell gestanden hatten. Man liest davon ab, was man davon erwartete: die Vereinigung der Vorteile beider Techniken. Von der Fotografie den Realismus, die detaillierte Registrierung, von der Malerei Interpretation und Expression. Leider war das Ergebnis bei den Tintypes so ungefähr das Gegenteil: Durch den – buchstäblich – zugrunde liegenden Realismus machten sie einen surrealen Eindruck, während die dicke Farbschicht vieles der Individualität auslöschte und ihnen so gerade eine mechanische Stimmung verlieh.
Umgekehrt nutzen Porträtmaler immer häufiger Fotos als Vorstudien oder Ersatz für das Modellstehen. Ihre Auftraggeber waren durch die Vertrautheit mit der Fotografie sowieso schon in schwindendem Maße bereit, langwierig zu posieren. Bei Historienbildern, auf denen viele Menschen erkennbar vorkommen sollten, standen oft nur die wichtigsten Figuren im Herzen des Bildes Modell, wer etwas weiter hinten stand, wurde gebeten, ein Fotoporträt abzugeben. Trotz seines Widerwillens gegen die Fotografie gab der englische Porträtmaler Frith unumwunden zu, er habe bei seinem Gemälde von der Hochzeit des Kronprinzen 1863 Fotos verwendet, darunter eines von Disraeli, ohne viel Nachteil, denn »dessen Gesicht war auf der Leinwand sicherlich nicht größer als ein Shilling«.
Anmerkung
Hinsichtlich eines
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