Das Buch des Vergessens
aufgenommen wurde, ist in einem Brief von Johannes IV . an Matildas Mutter beschrieben, mit der er einen innigen Kontakt beibehalten hatte.
Sie hat ihr Entree in die Familie sehr nobel gestaltet, indem sie das Porträt von Matilda schickte, das ungewöhnlich gut gelungen ist. Jan hat seine Mutter sofort erkannt. Die beiden Mädchen, die hier bei mir waren, als ich die Kiste öffnete, die aus Amsterdam kam, waren wie ich zu Tränen gerührt, als sie die Gesichtszüge von ihr sahen, die nicht mehr unter uns ist. Naatje brach in Schluchzen aus. Jan Willem, der nicht milde ist in seinem Urteil, hat zugegeben, er habe fast noch nie eine so perfekte Ähnlichkeit gesehen. Ich sage Ihnen, wenn eine Frau auf eine solche Weise in ihre neue Lebensphase geht, versteht sie ihre Aufgabe. Als Ehefrau und als Mutter und im Bewusstsein ihrer großen Verantwortung.
Anmerkung
Es ist eine Geste, die noch immer anrührt. Das Porträt sagte aus, dass sie nicht beabsichtige, Matilda zu ersetzen oder ihr nachzufolgen, stattdessen wollte sie helfen, die frühere Liebe im Leben ihres Mannes zu bewahren. Es war eine Ehrenbezeugung zu ihrem Gedenken. Aber es war auch eine sorgfältig erwogene Abweichung zu einer Konvention. In wohlhabenden Familien fertigte man in diesen Jahren gerade Daguerreotypien von gemalten Porträts an und verteilte diese. Henriette tat das Umgekehrte. Vielleicht ist ihre Gesteaus dem Jahr 1858 zugleich eine Antwort auf die Frage, warum wir auch in unserer Zeit ein Porträt nach einem Foto malen lassen: weil wir dann ein Gemälde haben, das genauso einmalig ist wie die Person, die darauf abgebildet ist.
Das Todesporträt
Samuel Morse hatte schon Ende 1839 ein Porträt von seiner Tochter angefertigt. Leider ist es verloren gegangen, aber es muss einen düsteren Anblick geboten haben. Weil die Belichtungszeit sehr lang war, hatte Morse sie gebeten, mit geschlossenen Augen Modell zu stehen, damit sie nicht blinzelte. Ein halbes Jahr später war die Belichtungszeit so weit reduziert, dass man mit offenen Augen posieren konnte, aber die absolute Reglosigkeit, die für ein scharfes Porträt notwendig war, ließ ihre Gesichter noch lange Zeit wie tot wirken. Das Porträt, das ›die Zeit anhält‹, erforderte das Fixieren jeglicher Bewegung, erst noch mit unsichtbaren Bügeln, die den Kopf stillhielten, später durch die praktische Pose, den Kopf in die Hand zu stützen oder einige Finger an die Schläfe zu legen. Der Ernst auf all diesen früheren Porträts war nicht nur die Folge des Wissens, dass der Daguerreotypist gleich die Aufnahme machte, auf der man verewigt würde, sondern wurde auch durch die Forderung eingegeben, einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, den man eine Zeit lang durchhalten konnte. Lachen gehörte nicht dazu.
Viele Porträts sollten als ein ›Zur Erinnerung‹ dienen – an eine Verlobung, einen Geburtstag, ein Jubiläum. Aber früher oder später, das war vielen bewusst, würde dieses Porträt sie vertreten, lange nachdem sie gestorben waren. So gesehen war jedes Porträt auch ein ›memento mori‹. Die Mittel zur visuellen Dokumentation dieses Bewusstseins lieh sich die Fotografie bei der Malerei. Mann oder Frau posierten mit einer aufgeklappten Taschenuhr, auf dem Tisch stand ein Stundenglas, auf dem Schoß lag eine abgeknickte Blume. Nicht jedes Vergänglichkeitssymbol aus der Malerei eignete sich für die Fotografie – Seifenblasen waren selbst bei einer reduzierten Belichtungszeit zu flüchtig –, aber die Fotografen nahmen dem Modellstehen nicht die Bedeutung. Es war, als zahlte man auch seinen Preis für die Eitelkeit, sich porträtieren zu lassen: Man musste zeigen, wie sehr man von jener anderen Bedeutung von Vergänglichkeit durchdrungen war.
Aber schon kurz nach der Erfindung der Daguerreotypie entsteht das Porträtgenre, das keine Symbole braucht, das Todesporträt.
Anmerkung
In der Ära der Daguerreotypie war dieses letzte Porträt oft auch das erste – das einzige, vor allem, wenn es um Kinder ging. In diesem einen Foto überschnitten sich das ›Zur Erinnerung‹ und das ›memento mori‹, es sollte die Eltern den Rest ihres Lebens an das Sterben dieses einen Kindes erinnern und von der Flüchtigkeit des Lebens durchdringen.
Mit dem Suchbegriff ›post mortem photography‹ kann man unter Google®-Bildern Hunderte von Beispielen für Todesporträts finden.
Anmerkung
Der größte Teil davon stammt aus dem ersten halben Jahrhundert der Fotografie, danach verschwand das
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