Das Buch des Vergessens
Arguments für die Überlegenheit der einen oder der anderen Kunstformen konnten sich die Geister jedoch nicht einigen. Antoine Claudet, Daguerres Lizenzinhaber in London, schrieb 1865, Miniaturen seien mehr oder weniger ähnlich, aber nur Fotos verschafften die perfekte Ähnlichkeit, die dem Herzen zu Diensten steht und das Gedächtnis befriedigt.
Anmerkung
Lady Elisabeth Eastlake fand, gerade dieser exakten Übereinstimmung liege ein Mangel an Selektivität zugrunde. In einem Essay aus dem Jahr 1857 schrieb sie, die Fotografie verrate schließlich ihre mechanische Art, indem sie die Jackenknöpfe genauso scharf abbilde wie Gesichtszüge. Das Fotoporträt, meinte sie, sei in neun von zehn Fällen doch nicht mehr als ein »Gesichtsstadtplan«, er verschaffe »akkurate Wegweiser und Größen, die durch liebevolle Augen und Erinnerungen mit Schönheit bekleidet und durch Ausdruck beseelt werden müssen«.
Anmerkung
Beide verweisen in ihren Argumenten auf das Gedächtnis, aber bezeichnend ist vor allem der Unterschied. Für Claudet scheint das Foto das Gedächtnis zu befriedigen, weil darauf festgehalten ist, wie jemand wirklich aussieht, das Gesicht, das wir sehen sollen, als stünden wir neben ihm oder ihr vor dem Spiegel. Für Lady Eastlake erweist nicht das Foto dem Gedächtnis einen Dienst, sondern muss umgekehrt das Gedächtnis dem Foto zu Diensten sein. Ohne »liebevolle Augen und Erinnerungen« wäre da nur das akkurate, aber leblose Spiegelbild, erst der Betrachter macht daraus das Gesicht eines geliebten Menschen.
Matildas Porträt
Eine der größten Daguerreotypien-Sammlungen der Niederlande befindet sich im Archiv der Familie Enschedé in Haarlem.
Anmerkung
Als Drucker und Zeitungsherausgeber waren sie intensiv an technischen Innovationen interessiert, und schon wenige Wochen nach der Bekanntmachung der Daguerreotypie tauchten im Kalender von Johannes Enschedé (›Johannes III.‹) Notizen über die Anschaffung einer Daguerreotypie und nicht viel später die einer Kamera auf. Im Archiv befinden sich rund achtzig Daguerreotypien, meist Porträts, mehr als im Archiv der königlichen Familie. Im Briefwechsel der Enschedés ist die Aufregung zu spüren, die diese neue Technik mit sich brachte, aber es ist auch zu lesen, dass man mit den Porträts etwas ausdrücken konnte, das mit Denken und Vergessen zu tun hatte, mit den »liebevollen Augen und Erinnerungen«, von denen Lady Eastlake sprach.
Johannes IV ., Sohn von Johannes III., hatte sein Herz an Matilda Lambert verloren, eine Pariserin, die ab und zu bei gemeinsamen Freunden in Haarlem zu Besuch war. Ihre Ehe sollte am 29. November 1849 geschlossen werden. Von Paris aus schreibt Matilda am 26. Oktober, sie freue sich sehr auf das Porträt, das ihr zukünftiger Schwiegervater versprochen hatte, von sich anfertigen zu lassen. Wenige Tage später kann ihr Verlobter ihr schon schreiben, dass dies gelungen sei: »Mein Vater hat sein Porträt als Daguerreotypie anfertigen lassen. Schaut, welchen Einfluss Sie schon jetzt auf uns und vor allem auf meinen Vater haben! Nie hat er unserem Wunsch entsprechen wollen, ein Porträt von sich anfertigen zu lassen, aber er braucht nur von Ihnen zu hören, dass Sie es gern hätten, und sofort steht er Modell. Das Porträt ist außergewöhnlich scharf, aber sein Gesichtsausdruck ist ziemlich streng.«
Anmerkung
Johannes IV . verspricht, es ihr mitzubringen, wenn er nach Paris kommt. Johannes III. bekommt umgehend einen Brief von Matilda: »Wie glücklich war ich zu hören, dass Sie für mich Ihr Porträt haben anfertigen lassen. Es ist mir sehr viel wert, und ich werde es mein Leben lang als eine meiner kostbarsten Erinnerungen bewahren.«
Anmerkung
Matilda verknüpfte das Foto, wie das öfter geschieht, mit der Erinnerung, und in ihremVersprechen, es ihr Leben lang zu hegen, äußerte sie die Zuneigung für ihren zukünftigen Schwiegervater. Leider war dieses »mein ganzes Leben« für sie nicht mehr sehr lang. Sie starb schon sechs Jahre nach der Hochzeit.
Drei Jahre nach Matildas Tod heiratete Johannes IV . Henriette Mirandolle. Ihr Einzug in die Familie zeugte von Stil. Irgendwann in den Monaten vor der Hochzeit war sie mit einer Daguerreotypie von Matilda bei dem Amsterdamer Maler Zürcher und gab ihm, wie der Quittung zu entnehmen ist, den Auftrag ›für ein gemaltes Porträt nach einer Daguerreotypie‹.
Anmerkung
Wie dieses Porträt von Johannes IV . und seinem damals siebenjährigen Sohn Jan (Johannes V.)
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