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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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als wäre ihm die Zeitung aus den Händen geglitten, als er nach einem langen Arbeitstag eindöste.
Anmerkung
Wer weiß, vielleicht war das eine vertraute Szene in seiner Familie, so wollte man sich seiner gern erinnern.
    Die meisten Postmortemfotos, auf denen man Tote posieren ließ, als wären sie noch am Leben, stammen aus Amerika und England. Aber auch in Europa sind solche Fotos gemacht worden, manchmal mit einem surrealistischen Effekt. Nachdem Reitmayer, von Beruf Journalist, sich 1864 mit Zyankali das Leben genommen hatte, brachte man seinen Leichnam ins Studio des Wiener Fotografen Albin Mutterer.
Anmerkung
Dieser komponierte ein Postmortemporträt, das durch den natürlichen Augenaufschlag, das angedeutete Lächeln, das seine Lippen zu umspielen scheint, und die Zigarette, die zwischen seinen Fingern steckt, den Eindruck erweckt, als verfüge der Fotograf wirklich über die Fähigkeit, jemanden aus dem Tod zurückkehren zu lassen. Auf vielen Todesporträts ist der Tote nicht allein. Babys und Kinder werden auf den Schoß gesetzt, ältere Kinder werden umarmt, Familienmitglieder stellen sich daneben, als wäre der Tote einfach noch in ihrer Mitte. Auf manchen Fotos hat man den Toten hingesetzt, und er umarmt ein Brüderchen oder Schwesterchen. Obwohl der Blick ganz von selbst zu diesem einen Totenzwischen den Lebenden gezogen wird, zeugen die Todesporträts auch von den Gefühlen der Eltern und Kinder, die gemeinsam mit dem Leichnam Modell stehen. Fotos wie diese landeten zwischen den anderen Fotos auf der Anrichte, an der Wand oder im Album.

    Posthume Fotos sollten ›das Bildnis des Toten zwischen den Lebenden halten‹, wie Hawthorne es 1837 noch von seinem geheimnisvollen Porträtmaler gesagt hatte. Aber Eltern – denn die meisten Porträts waren von Kindern – wollten dieses Bildnis am liebsten so lebendig wie möglich haben und waren zu großen Anstrengungen bereit, um dies zu erreichen. Bei manchen Porträts bedeutete das, dass der Leichnam des Kindes ins Studio des Fotografen transportiert werden musste. Während Epidemien wie Scharlach oder Diphtherie war diese Praxis wegen der Ansteckungsgefahr verboten. Bei Porträts zu Hause musste der Fotograf sein nicht gerade kleines Instrumentarium mitnehmen. Rechnungen von Fotografen wiesen meist einen Posten für die Miete eines Fahrzeugs auf.
Anmerkung
Für die schon bald einsetzende Leichenstarre und die Verfärbung der Haut mussten Lösungen gefunden werden. Postmortemfotografie war ein zeitraubendes, teures und äußerst fortschrittliches Genre, an sich schon ein Beweis für die Intensität der Sehnsucht, den Verstorbenen möglichst lebendig in Erinnerung zu halten.
    Manchmal wollten Angehörige mehr tun, als ihre Erinnerungen und Porträts hegen: Sie wollten sich ihrerseits selbst festhalten als eine Person, die des Verstorbenen gedenkt.
Anmerkung
Das führte zu dem Genre des Porträts im Porträt: Menschen ließen sich mit einem Foto des verstorbenen Lieben fotografieren. Ob dieses Foto im Foto jetzt ein posthumes Porträt war, wie notgedrungen in den ersten zehn, zwanzig Jahren der Fotografie, oder ein Porträt, das im Leben entstanden war – immer war es ein Porträt, das in Händen gehalten wurde, auf den Schoß gelegt oder an die Brust gedrückt, das Gedenken selbst war das Herz der Darstellung. Die Sorgfalt, mit der sie das Porträt emporhielten oder sich dem Betrachter zuwandten, verwies auf die Sorgfalt, mit der sie die Erinnerung in ihrem Gedächtnis hegten.
    Auch das Foto im Foto als Andenken an das Gedenken ging auf Konventionen zurück, die es in der Malerei schon lange gab. Eltern standen mit ihren Kindern Modell, all ihren Kindern, verstorbene Kinder als Porträts in Porträts. Hinterbliebene bemühten sich schon immer, der Lieben, die sie verloren hatten, zu gedenken, je nachdem, was die jeweilige Zeit an Mitteln bot. Und nach wie vor posieren Menschen mit Fotos, um Verstorbener zu gedenken. Aber das Foto im Foto ist in unserer Zeit immer ein Foto, das im Leben aufgenommen wurde. Das Todesporträt als öffentliches Genre ist so gut wie verschwunden. Der Niedergang setzte schon um 1870 ein, als es immer mehr Möglichkeiten gab, Menschen schon zu Lebzeiten regelmäßig zu fotografieren. Damit entfiel die posthume Pflicht, die beim ersten Kennenlernen des Genres so morbide wirkt: noch ein Weilchen lebendig zu wirken, lange genug für die Anfertigung eines Porträts, das Hinterbliebenen helfen sollte, sich daran zu erinnern, was dem Tod

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