Das Buch des Vergessens
vorangegangen war.
Noch immer werden manchmal Tote fotografiert, auch wenn das nicht mehr durch professionelle Fotografen geschieht.
Anmerkung
Jetzt sind es enge Vertraute der Verstorbenen, die manchmal einige letzte Aufnahmen machen. Diese Fotos gelangen nicht in die Öffentlichkeit, nicht einmal ins Fotoalbum, sie werden verborgen und wie früher eine Daguerreotypie nur noch in Momenten angeschaut, in denen man mit dem Foto allein sein kann. Und wenn keine Fotos des Toten gemacht werden, liegt es daran, dass wir den Toten lieber als Lebenden in Erinnerung behalten wollen. Wenn wir dafür Fotos benötigen, gibt es diese schon. Sie finden ihren Weg in Erinnerungsalben und manchmal in eine Powerpointpräsentation bei der Beerdigung. Jetzt ist es der Leichnam selbst, der so lebendig wie möglich aussehen soll. Dazu gibt es kosmetische Techniken und Hilfsmittel, sicherlich so umfänglich wie die eines Fotografen aus dem neunzehnten Jahrhundert, um die Spuren des Todes zu beseitigen. Nochimmer wird versucht, eine Illusion herbeizuführen: die des Toten, der zu schlafen scheint, genauso friedlich wie seinerzeit die Babys auf ihrem Todesporträt.
Gegen die noch lebende Erinnerung
Nachdem sich seine Frau Emma das Leben genommen hat, versucht der trauernde Charles Bovary, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er konzentriert sich darauf, wie er ihr Andenken ehren könnte. Zweimal reist er nach Rouen, um dort ein Grabmal auszusuchen, studiert sicherlich hundert Entwürfe, denkt darüber nach, was er auf die Grabstätte gravieren lassen möchte, zermartert sich das Hirn über das schönste Symbol, den besten Text. Aber inmitten all dieses Erinnerns und Gedenkens überkommt ihn etwas Beunruhigendes: »Seltsam: Obwohl Bovary unablässig an Emma dachte, vergaß er sie doch mehr und mehr. Er war ganz verzweifelt darüber, dass ihr Bild, trotz all seiner Anstrengungen, es festzuhalten, ihm allmählich aus der Erinnerung entschwand.«
Anmerkung
Flaubert leitet die Beschreibung ein mit »seltsam«, aber diese Erfahrung ist ein bekanntes Phänomen bei Trauer. Manchmal wird sich jemand, der einen lieben Angehörigen verloren hat, schon nach wenigen Tagen schockiert darüber klar, dass es ihm nicht gelingt, sich das Gesicht des Verstorbenen vor Augen zu führen. Wie bei Bovary hat dies intensive Verzweiflung zur Folge: Wenn ich jetzt schon so etwas Vertrautes wie ein Gesicht vergessen habe, was wird dann in einigen Monaten oder Jahren noch von meinen Erinnerungen übrig sein? Das Vergessen des Gesichts so kurz nach dem Tod ist zum Glück vorübergehender Art, es ist Teil des Kummers und der Erschütterung, die merkwürdigerweise auch zum Gegenteil des Vergessenes führen können, der Halluzination, der Verstorbene, der plötzlich für einen Moment als Bild oder Stimme wieder anwesend ist.
Aber auf längere Sicht wird die Erinnerung an Gesichter, an einen Ausdruck, einen Augenaufschlag, daran, wie ein Gesicht in Bewegung aussah, tatsächlich verblassen. Um dies zu verhindern, bedient man sich häufig der Fotos als natürlichstem Hilfsmittel zur Unterstützung des Gedächtnisses. Was dann passieren kann, wurde 1857 auch schon von Flaubert beschrieben. Ein Liebhaber Emmas, Rodolphe, hat ein Kistchen mit Erinnerungsstücken wie Briefe, Taschentücher und Haarlocken. Auch eine Miniatur von ihr befindet sich darin: »Als er dann dieses Bild eine Zeit lang betrachtet und die Erinnerung an das Urbild wieder heraufbeschworen hatte, verschwammen Emmas Züge nach und nach in seinem Gedächtnis, als hätten sich das lebendige Gesicht und das gemalte Gesicht aneinander gerieben und gegenseitig ausgewischt.«
Anmerkung
Was das Gedächtnis unterstützen sollte, erweist sich gerade als Gefahr. »Ein Foto bewahrt etwas«, schrieb Rudy Kousbroek, »aber es ist nicht immer klar, dass durch den Prozess des Aufbewahrens zugleich etwas vernichtet wird. Ein Porträtfoto, vor allem eines von einem Verstorbenen, tritt anstelle der Erinnerung; das Foto verdrängt sie, ersetzt sie, lässt etwas im Gedächtnis verblassen.«
Anmerkung
Wer fotografiert, hat anschließend nicht seine Erinnerungen und das Foto, diese Erinnerungen sind von Anfang an mit dem Foto vermischt, und nach einiger Zeit mischt sich das Foto auch unter die Erinnerungen. Für den Psychologen stellt sich also die Frage: Warum haben Fotos diesen Effekt? Lässt das Foto wirklich die Erinnerung schwinden? Warum bewahrt unser Gedächtnis nicht die Erinnerung und das Foto? Platzmangel
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