Das Buch des Vergessens
Todesporträt allmählich, zumindest als öffentliches Genre. Was haben sich Eltern, Witwen, Witwer oder Kinder von diesen Todesporträts erwartet oder erhofft? Dazu gibt es nicht viele Quellen, aber die Art und Weise, wie ›posiert‹ wurde, liefert ein paar Hinweise.
Auf vielen Porträts ist der Verstorbene festgehalten als das, was er war: tot. Der Körper liegt aufgebahrt, die Augen geschlossen, im Totenhemd, mit Kreuz oder Rosenkranz in den gefalteten Händen. Die Gesichter drücken eine Stimmung friedlicher Hingabe aus. Was dem Tod auch an Krankheit, Kampf oder Widerstand vorausgegangen war, jetzt war der Verstorbene bereit für den Übergang. Daran wollten sich Zurückbleibende als letztes Bild erinnern. Diese Haltung passte zur Vorstellung vom Sterben als Einschlafen, einer Darstellung von Metaphern wie ›die ewige Ruhe‹ oder ›der letzte Schlaf‹. Das wollten Kunden auf ihren letzten Fotos sehen können, und Fotografen versprachen in ihrer Werbung rundheraus, dass sie diesen Wünschen entgegenkämen. Die Firma Southworth & Hawes aus Boston warb 1846 in einer Anzeige damit, sie könnten Verstorbene so fotografieren, dass sie ›ruhig zu schlafen schienen‹.
Anmerkung
Eine ihrer Daguerreotypien eines unbekannten verstorbenen Mädchens beweist, dass sie diese Kunst perfekt beherrschten. Für Hinterbliebene war dies zugleich das Porträt, das die Erinnerung an ihr Liebstes in einem größeren Kreis von Familie und Freunden vertreten sollte: Mit den damaligen Mitteln von Kommunikation und Reisemöglichkeiten konnte längst nicht jeder zur Beerdigung kommen. Das Porträt gab auch ihnen die Möglichkeit eines letzten Blicks.
Aber für das moderne Auge, nicht an die Konfrontation mit Toten gewöhnt, ist da noch eine Kategorie von Todesporträts, die viel mehr schockiert: die des Verstorbenen, der so in Position gesetzt wurde , als wäre er noch am Leben. Um diese Illusion zu bewirken, gab es Konventionen und Techniken. Wenn es um Babys oder kleine Kinder ging, versuchten Fotos den Eindruck zu erwecken, das Kind schliefe. Aber anders als bei jenen früheren Todesporträts sollte dieser Schlaf aussehen, als könne das Kind jeden Moment erwachen: Es liegt auf dem Schoß oder dem Sofa, eine Puppe oder ein Schaukelpferd neben sich, es kann gleich weiterspielen. Waren etwas ältere Kinder oder Erwachsene gestorben, verfügte der Fotograf über ein ganzes Arsenal an Hilfsmitteln, um den Körper so zu präsentieren, als wäre er noch am Leben. Die Augen wurden künstlich aufgesperrt oder beim Retuschieren nachträglich geöffnet. Es gibt Beispiele von Todesporträts, bei denen der Fotografierte genau in die Linse schaut, und zwar stehend. Man kann nicht glauben, dass dieser kleine Junge tot ist, bis ein Kommentar darauf verweist, dass hinter seinen Schuhen der Fuß des schweren Eisenstabs zu erkennen ist, der ihn aufrecht hält, dass die Verdickung um seine Taille unter der Jacke ein Bügel ist und ein Eisendraht im Ärmel seinen linken Arm auf einem Stuhl ruhen lässt. Nur die geschwollene Hand am herabhängenden Arm verrät, dass hier ein Toter Modell steht.
Es war eine Frage beruflichen Stolzes, das Foto so anzufertigen, dass wirklich keine Spur des Todes darauf zu sehen war. Ein Fotograf des Photographic Fine Arts Journal schrieb 1858, er habe vor Kurzem eine Daguerreotypie von einem verstorbenen Mädchen zu Gesicht bekommen, das alle Frische und Lebendigkeit eines im Leben angefertigten Porträts hatte: »Sogar die Augen, man mag es kaum glauben, sind keineswegs ausdruckslos, sondern so natürlich, dass niemand erahnen kann, dass es sich um ein Postmortembildnis handelt.«
Anmerkung
Um die Augen leuchten zu lassen, trugen manche Fotografen beim Retuschieren Glimmer auf, andere tröpfelten Glycerin in die Augen. Letzteres ist wahrscheinlich beim Porträt von Sarah Lawrence geschehen, verstorben 1847. Man hatte eine Trommel neben das liegende Mädchen gelegt, sie bekam Trommelstöcke in die Hand, und danach muss der Fotograf auf eine Treppe über ihr geklettert sein, um seine Kamera gerade nach unten richten zu können. Vielleicht hat er dabei nicht ganz genau gezielt: Sarah scheint ein kleines bisschen über den Zuschauer hinwegzuschauen.
Auf anderen Todesporträts hat man den Verstorbenen auf einen Stuhl gehievt, in seiner normalen Kleidung, umgeben von seinen vertrauten Dingen. Es gibt ein Porträt eines Mannes aus dem Jahr 1868 in einem Lehnstuhl, das den Eindruck erwecken sollte, er seieingeschlafen,
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