Das Buch des Vergessens
als Episode erzählen lässt. Ist es nicht das, was alle Kinder früher oder später, mit oder ohne Hilfe mit ihren ersten Erinnerungen machen? Mittels eines sehr findigen Experiments haben zwei Psychologen gezeigt, dass dem wahrscheinlich nicht so ist.
Anmerkung
Kinder tendieren nur eingeschränkt dazu, ihre frühen Erfahrungen in einen Wortschatz ›umzuschreiben‹, den sie sich erst später aneignen.
An diesem Experiment nahmen Kinder aus drei Altersgruppen teil. Die jüngste Gruppe war im Durchschnitt zwei Jahre und drei Monate alt, die älteste drei Jahre und drei Monate. Vor dem Experiment wurden der passive und der aktive Wortschatz aller Kinder bestimmt. Das Experiment selbst bestand daraus, dass die Kinder die Bekanntschaft eines sehr wunderlichen Geräts machten: der magic shrinking machine. An einem Schränkchen waren ein Hebel und eine Kurbel befestigt. Wenn das Kind den Hebel betätigte, begann die Maschine zu arbeiten und ein paar Lämpchen flackerten. Die Versuchsleiterin nahm ein Spielzeug aus einer Truhe, ließ es in die Maschine fallen, drehte an der Kurbel, es erklangen ein paar fröhliche Töne, und kurz darauf konnte das Kind eine Miniaturausgabe des Spielzeugs unten aus dem Apparat holen. Alle Kinder lernten schnell, wie sie die Maschine selbst bedienen konnten.
Die Wissenschaftlerinnen besuchten die eine Hälfte der Kinder nach einem halben Jahr wieder, die andere Hälfte nach einem Jahr. Wie viel sie von dem Spiel mit der Schrumpfmaschine behalten hatten – die Reihenfolge der Handlungen, das verwendete Spielzeug usw. –, stieg mit dem Alter an und sank mit der Zeit, die mittlerweile verstrichen war, ein Ergebnis im Rahmen der Erwartungen. Aber das Experiment war eigentlich auf ein ganz anderes Problem ausgerichtet: Inwiefern können Kinder ihre Erinnerungen an die Maschine in Worten beschreiben, die ihnen im ersten Versuch noch nicht zur Verfügung standen? Beim zweiten Besuch der Psychologen wurden die Kinder erst gefragt, was sie von ihren Erlebnissen beim ersten Besuch erzählen konnten. Wenn sie zu Ende erzählt hatten, zeigte man ihnen Fotos von Spielzeug, das seinerzeit in der Maschine verschwunden war. Das Spielzeug stand zwischen ›Ablenkern‹ – zum Beispiel ein Teddybär zwischen drei Bären, die nicht verwendet worden waren. Schließlich wurde die Maschine selbst wieder zum Vorschein geholt, und die Kinder wurden gebeten, vorzuführen, wie sie funktionierte. Die Identifikation des verwendeten Spielzeugs anhand der Fotos war gar kein Problem, es war deutlich, dass sich die Kinder an das Spiel mit der Maschine gut erinnerten. Aber die Überraschung war, dass kein einziges Kind beim Erzählen über das erste Mal auch nur ein einziges Wort benutzte, das seinerzeit nicht, nun aber sehr wohl zu seinem Wortschatz gehörte. Auch wenn das Kind mittlerweile über Wörter wie ›Hebel‹ oder ›Kurbel‹ verfügte, wurden sie nicht verwendet. Der verbale Bericht, schrieben die Forscherinnen, war »in seiner Zeit eingefroren, eine Widerspiegelung ihrer sprachlichen Fertigkeiten im Moment des Abspeicherns statt im Augenblick der Reproduktion«.
Anmerkung
Wer aus der Nähe miterlebt, wie bei Kindern in relativ kurzer Zeit zunehmend Sprachgewandtheit entsteht, hat das Gefühl, als vollzöge sich vor seinen Augen ein Wunder. Der explodierende Wortschatz, das Konjugieren und Deklinieren, das Spielen mit der Intonation – dies alles entwickelt sich scheinbar aus dem Nichts und ist für das ganze restliche Leben wichtiger Bestandteil der Kommunikation. Die rasante Entwicklung hat allerdings eine Kehrseite. Beim Wachsen machen sich Kinderhirne offensichtlich nicht die Mühe,ältere Erinnerungen mit einem neuen Code zu versehen und so zugänglich zu halten. Wie veraltete Dokumente geraten sie aus dem Blick, und es endet damit, dass man sie auch nicht mehr heranziehen kann. Auf frühe Erfahrungen wirkt die schnelle Entwicklung von Sprache wie eine magic shrinking machine. Ganze Jahre aus einem Kinderleben werden auf ein paar lose Bilder, Erlebnisfetzen, drei, vier Sekunden dauernde Szenen reduziert, denen nichts vorausgeht und nichts folgt.
Anhänger eindeutiger Erklärungen sollten die Theorien über das Vergessen während der Kinderjahre lieber an sich vorbeiziehen lassen. Jeder Versuch im Sinne von ›dieses Vergessen erklärt sich dadurch, dass …‹ ist irreführend. Ein ausgewachsener Hippocampus ist höchstens eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für ein
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