Das Buch des Vergessens
funktionierendes Gedächtnis. Auch nachdem sich der Hippocampus vollständig ausgebildet hat, ist das autobiografische Gedächtnis noch kaum in Schwung gekommen. Dazu bedarf es weiterer Faktoren. Was wiederum sofort zu einem Problem führt: In dieser Phase eines Kinderlebens verändert sich sehr vieles gleichzeitig. Das beginnende Ich-Bewusstsein lässt ein ›Ich‹ entstehen, das Erlebnisse als eine persönliche Vergangenheit erfahren wird. Der Zeithorizont erweitert sich in beide Richtungen. Es entsteht ein Bewusstsein über allerlei Arten von ›früher‹, das Kind versteht, dass gestern etwas anderes ist als letzte Woche oder vergangenen Sommer.
Anmerkung
Daran hat die Entwicklung von Sprache einen großen Anteil: Ein sich allmählich verfeinerndes Netzwerk von Zeitverhältnissen erfordert Wörter, die Knotenpunkte markieren. Gleichzeitig macht Sprache noch ein Weiteres: Sie bringt persönliche Erfahrungen nach außen. Kinder, die ihre Erinnerungen dank der Sprache mit Eltern, Brüdern, Schwestern und Freunden teilen können, machen aus diesen Erinnerungen etwas, über das man sich austauschen kann, sie werden zu sozialen Erfahrungen. Das Erzählen über das Erlebte bringt nicht nur mit sich, dass die Erinnerung erneut hervorgeholt und so in gewisser Weise wiederholt wird, sondern die Erinnerung erhält dadurch auch eine verbale Gestalt. Eine Erinnerung, die zu einer Geschichte gemacht wird, impliziert einBewusstsein von früher und später, von Ursache und Folge, von einer zeitlichen Relation in Bezug auf andere Erlebnisse. All dies hat einen verfestigenden Effekt auf die Erinnerung.
Doch neben der Sprache und dem Ich-Bewusstsein entwickelt sich noch etwas, das einen löschenden Effekt auf Kindererinnerungen hat. Kinder fangen an, ihre Erfahrungen in Routinen zu ordnen, in einem festen, drehbuchartigen Ablauf, der in der Psychologie meist ›Skript‹ genannt wird. Es gibt Skripte für Anziehen, Fertigmachen für die Schule, für das Spielen bei Freunden, das Übernachten bei Oma und Opa. Solche Skripte werden sich im gesamten weiteren Leben entwickeln. Sie sorgen dafür, dass einzelne Erfahrungen in eine schematische Vorstellung aufgenommen werden und so als einzelnes Erlebnis immer schwieriger zurückholbar sind. Was das Kind von Tag zu Tag erlebt, verwandelt sich beim Aufwachsen in eine globale Vorstellung dessen, wie es zugeht beim Anziehen, beim Übernachten woanders. Und genau hier sind es die ersten Erinnerungen, die verdeutlichen, welche Mechanismen im sich entwickelnden autobiografischen Gedächtnis am Werk sind.
Nehmen wir die erste Erinnerung von Ria Lubbers. Sie war erstaunt, dass ihre Mutter die deutschen Soldaten belog, die fragten, ob ihr Mann zu Hause sei. Dieses Erstaunen konnte nur vor dem Hintergrund einer Mutter entstehen, die nie lügt. Alle Erfahrungen, die Ria als kleines Kind mit ihrer Mutter gemacht hatte, die zusammen das Bild einer Mutter ergaben, die nie lügt, sind in dieser globalen Vorstellung aufgegangen und damit verschwunden. Zugleich mit dem Bemerkenswerten, dem Abweichenden, wird auf diese Weise ganz kurz sichtbar, was vergessen ist: die Erfahrungen, die erst zu einer Normalsituation führten, all die Male, in denen sie die Wahrheit sprach. So gesehen ist es verständlich, dass gerade die Kriegsjahre so viele erste Erinnerungen hervorgebracht haben. Jede für sich ist als eine Abweichung der normalen Situation zu charakterisieren: dass der Vater nicht zu Hause wohnt, sondern wegen der Mobilisierung in einem Fort einquartiert ist, dass Untergetauchte auf dem Dachboden schlafen, dass ein jüdischer Straßenpflasterer misshandelt wird, dass man bei Fliegeralarm unter den Tisch tauchen muss, dass Silberpapierchen aus Flugzeugen trudeln.
Abweichungen sind auch all diesen ›ersten Malen‹ eigen, die in den frühsten Erinnerungen festgehalten sind: der erste Schultag, das erste Mal elektrisches Licht sehen, das erste Mal eine Banane schmecken. Wim Duisenberg erinnerte sich an sein Erstaunen über das Eis, das er auf dem Schiff von Lemmer nach Amsterdam bekam. Es war sein erstes Eis am Stiel. An alle vorangegangenen Waffeleisgenüsse kann er sich nicht erinnern, das Stieleis war die Abweichung. Entscheidend bei dieser Erklärung ist, dass sich beim Kind erst ein Bewusstsein des Normalen entwickelt haben muss, ein umfangreiches Repertoire von Skripten. In diesen Skripten haben Erinnerungen nach und nach für etwas Platz gemacht, das man eher ›Wissen‹ nennen sollte, Wissen,
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