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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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statt, aber sie markieren genau die Jahre, in denen das autobiografische Gedächtnis wirklich in Gang kommt. Obwohl ihnen andere Erinnerungen vorausgehen, wird dieser frühere Zeitraum als ›Nebel‹ beschrieben oder als ›Dunkel‹, in dem die Ich-bin-ich-Erinnerung aufblitzt (Nabokov). Eine junge Erzieherin erinnert sich an ein Wochenende, an dem sie am frühen Morgen im Bett lag. Wie sie zu diesem Gedanken kam, kann sie nicht mehr sagen, aber es traf sie wie ein Schlag: »Mir wurde auf einmal klar, wie einzig ich war. Alles an mir, mein Aussehen und vor allem meine Gedanken. Das Gefühl, das mich dabei überkam, war so stark und mitreißend. So intensiv habe ich mich danach nie wieder gefühlt. Dieses Erlebnis hat auch mein Erinnerungsvermögen geprägt. An etwas vor diesem Tag kann ich mich nicht mehr erinnern. Es scheint fast so, als ob mein Leben von da an erst richtig begonnen hat. Zu diesem Zeitpunkt muss ich etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein.«
Anmerkung
Mit dem Beginn eines bewussten Ich scheint zugleich auch etwas abgeschlossen zu werden.

    Die Entwicklung von Ich-Bewusstsein, plötzlich oder allmählich, ist nicht die einzige Veränderung in dieser Phase eines Kinderlebens. Gleichzeitig mit der Entwicklung ihres Wortschatzes und der Sprachfertigkeit verarbeiten Kinder ihre Erfahrungen immer häufiger ›sprachlich‹ und speichern sie. Ihre Erinnerungen werden nach und nach zu Geschichten, und das Wiederaufgreifen dieser Erinnerungen verläuft von diesem Moment an vor allem über verbale Assoziationen.
Anmerkung
Dass bei den meisten Kindern irgendwann zwischen dem dritten und vierten Geburtstag die ersten Erinnerungen auftauchen, die sie später wiedergeben können, wird nicht zufällig mit der schnellen Zunahme ihrer Sprachfertigkeit in genau dieser Phase zusammenfallen. Aber als Konsequenz ergibt sich, dass Erinnerungen, die nicht in Sprache gespeichert sind, schnell entschwinden; sie werden nicht durch die Sprache festgehalten.
    Das ist der Typ von Vergessen, der nichts mit einem Löschen aus dem Gedächtnis, einem noch nicht ausgewachsenen Hippocampus oder instabilen neuronalen Spuren zu tun hat. Denn es ist nicht die Erinnerung selbst, die verschwindet, sondern der Zugang. Eine Tür ist ins Schloss gefallen, und die Schlüssel, die jetzt im Umlauf sind, können die Tür nicht mehr öffnen. Diese Erklärung passt gut zu dem Typ erste Erinnerung in unterschiedlichem Alter. Die Erinnerung, die nicht mehr ist als ein ›Bild‹, kommt als erste, wenn das Kind noch kaum über Sprache verfügt. Die ›Szenen‹ und ›Episoden‹ erscheinen erst, wenn das Kind auch sprachlich auf seine Erfahrungen zurückblicken kann und anderen oder sich selbst anfängt zu erzählen, was es erlebt hat.
    Aber sind Kinder nicht in der Lage, diese frühen, nichtsprachlichen Erinnerungen später nachträglich in Sprache umzusetzen und so in ihrem Gedächtnis festzuhalten? Das ist doch schließlich, was der Anfang von Die gerettete Zunge suggeriert: Der kleine Elias muss seine beängstigenden Erlebnisse als Zweijähriger später in Sprache umgesetzt haben, denn sonst hätte er seiner Mutter nicht davon erzählen können. Das Taschenmesser, die Klinge, all diese Worte, die ihm auf dem Arm des Kindermädchens noch nicht zur Verfügung standen, halfen ihm später dabei, aus einer Reihe von Bildern eine Episode zu gestalten. Auch in der Sammlung Scheepmaker findensich dazu Beispiele. Der Schriftsteller Adriaan Venema erzählte: »Ich erinnere mich noch daran, dass ich ganz hoch auf jemandes Schultern saß und meine Hände etwas Rundes und Kaltes aus Stahl anfassten. Meine Mutter hat mir später erzählt, was passiert war. Ich war aus dem Garten unseres Hauses in der Groenelaan in Heiloo gelaufen und hatte den Rijksstraatweg überquert. Damals war ich drei. Das war natürlich sehr gefährlich, auch wenn es 1944 längst nicht so viel Verkehr gegeben haben wird wie heute. Ein deutscher Soldat mit Helm hat mich festgehalten, auf seine Schultern gehoben und die Leute, die dort wohnten, gefragt, ob sie wüssten, wo ich wohnte. Ich hatte damals karottenrote Haare, und in der Nachbarschaft kannten mich alle. Meine Mutter erschrak fast zu Tode, als ich auf einmal auf den Schultern eines deutschen Soldaten vor der Tür stand.«
Anmerkung
Die einzelnen Sinneswahrnehmungen – hoch sitzen, etwas Rundes und Kaltes fühlen – wurden mit etwas Hilfe von außen zur letztendlichen Version verarbeitet, eine erste Erinnerung, die sich

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