Das Buch des Vergessens
all unseren Erinnerungen würden wir diese am liebsten so hegen, dass Vergessen ausgeschlossen ist. Wir versprechen es in Kondolenzbriefen und beschwören es im Umgang mit den eigenen Erinnerungen. Umgekehrt hofft jemand, der sich vom eigenen Leben verabschieden muss, in den Erinnerungen von Familie und Freunden weiterzuleben. Aus der Erinnerung zu verschwinden, wird bis heute als ›zweiter Tod‹ bezeichnet. In einer Sammlung von Abschiedsbriefen aus der Zeit des Terreur (1793 –1794), geschrieben von Menschen, die wussten, dass sie am nächsten Tag sterben würden, ist zu lesen, wie sie Trost in der Aussicht zu finden suchten, von den Menschen, die ihnen lieb waren, nicht vergessen zu werden (S. 291).
Im Buch des Vergessens kommen überwiegend Neurologen, Psychiater, Psychologen und andere Vertreter der Wissenschaften des Gedächtnisses zu Wort. Aber selbst wenn sie Antworten über das Wie und Warum des Vergessens liefern könnten, bliebe noch immer ein prekärer Abstand zwischen unserem theoretischen Wissen über das Gedächtnis und dem, was wir persönlich mit unserem Gedächtnis erleben. Gerade in diesem Niemandsland zwischen Wissenschaft und Introspektion werden die Fragen laut, die dazu zwingen, über das eigene Erinnern und Vergessen nachzudenken. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch nahm zwischen seinem fünfundfünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr ab und zu eine Liste mit bohrenden Fragen in sein Tagebuch auf.
Anmerkung
Sie boten die Anregung für die heiklen Fragen, mit denen Das Buch des Vergessens abschließt (S. 317). Frisch hat keine einzige Frage selbst beantwortet, ein Beispiel, dem ich mit Vergnügen gefolgt bin.
Umspült vom Vergessen: die erste Erinnerung
Vor Jahren habe ich den tunesischen Spielfilm Halfaouine gesehen, erstmals 1990 gezeigt. Von der Geschichte an sich könnte ich nur noch wenig reproduzieren, aber ich erinnere mich an einige Fragmente über den Jungen Noura. Er ist zwölf, noch jung genug, um seine Mutter ins Frauenbadehaus begleiten zu dürfen. Jede Woche betritt er eine wunderbare dampfende Welt, eine Welt, in der Frauen feengleich aus den Dunstnebeln zum Vorschein kommen, sich neben ihn knien, ihn einseifen, sich selbst einseifen, abspülen und danach voller Ruhe ihre Arme, Beine und Brüste mit Öl einreiben. Noura hält die Augen offen. Allmählich kommt er in ein Alter, in dem ihn die Frauenkörper neugierig machen. Sein Betrachten verwandelt sich in Spannen, auch wenn er dabei ein ganz unschuldiges Gesicht macht. Natürlich geht das nicht lange gut. Eine der Frauen fängt etwas in seinem Blick auf. Am nächsten Badetag muss er mit zu den Männern.
Die Grenze zwischen noch jung genug und zu alt ist diffus, aber sie existiert, und wenn man sie einmal überschritten hat, gibt es kein Zurück mehr. So wie der sechsjährige Noura nicht ahnte, wie er mit zwölf die Frauen ansehen würde, kann sich der aus dem Frauenbadehaus verstoßene Noura nicht mehr daran erinnern, wie es war, von warmen, nackten Leibern umgeben zu sein, ohne sich etwas dabei zu denken, und nichts zu sehen, obwohl es doch so viel zu sehen gab. Die mittlerweile erwachte Sexualität hat zwei Nouras geschaffen, die keinen Zugang zum jeweils anderen haben.
Aber ist diese Unzugänglichkeit wirklich wechselseitig? Das Gedächtnis versetzt einen doch in die Lage, sich sein früheres Selbst noch einmal vor Augen zu führen und die Welt so zu erleben, wie man sie früher erlebte? Manche Verfasser von Autobiografienkönnten einen das fast glauben machen. In ihren einleitenden Kapiteln beschwören sie ein Kind herauf, das die Welt durch Kinderaugen betrachtet, wie ein Kind denkt und sich so verhält. Woher sonst kann dieses Kind stammen als aus ihrem Gedächtnis?
Die Frage ist naiv. Kinder werden nicht im Gedächtnis wiedergefunden, das ist höchstens der Ort, an dem sie aufs Neue gezeugt werden. Und auch wenn Erinnerungen nötig sind, um dieses Kind zu Papier zu bringen, wurden diese nicht einfach wiedergefunden, sie sind, oft mit großer Mühe, ausgegraben worden. Anschließend wurden sie noch einer literarischen Bearbeitung unterzogen, denn eine Sammlung von Erinnerungen aus Kindertagen ist schließlich noch keine Geschichte einer Kindheit. Beschreibungen aus der Kindheit, die überzeugen, authentisch scheinen, beim Leser eigene Kindererinnerungen mitschwingen lassen, sind das Produkt literarisch-fachmännischen Könnens und unter diesem Aspekt gerade am weitesten vom tatsächlichen kindlichen Erleben
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