Das Buch des Vergessens
dem vollkommen unbekannten Londoner Hausarzt Arthur Wigan formuliert worden (S. 145). Er legte 1844 dar, die linke und die rechte Gehirnhälfte hätten jeweils ein eigenes Bewusstsein und ein eigenes Gedächtnis. Zu seiner Zeit schenkte niemand dieser Theorie Glauben, und es gibt noch immer gute Gründe, dies nicht zu tun. Aber vieles von dem, was Wigan – in seiner eigenen Wahrnehmung ›der Galilei der Neurologie‹ – mit seinen zwei Gehirnen zu erklären vermochte, sollte Freud ein halbes Jahrhundert später aus dem Verhältnis zwischen dem bewussten und dem unbewussten Teil unseres Geistes ableiten.
Aber der wichtigste Leitfaden bei der Auswahl war aufzuzeigen, dass im Denken über das Vergessen sichtbar wird, was wir von unseren Erinnerungen erhoffen oder befürchten. Erinnerungen haben die beunruhigende Fähigkeit, nachträglich ihre Gestalt zu verändern. Manchmal braucht es dazu nicht viel. Man hört etwas über jemanden, und dieses neue Wissen setzt die Erinnerung an diese Person in ein anderes Licht. Oder es wird klar, dass man schon eine ganze Weile – in welcher Form auch immer – betrogen wurde. Danach kann man nichts anderes mehr machen, als zuzusehen, wie sich eine Erinnerung nach der anderen dieser neuen Version der Vergangenheit fügen muss. Lieb gewonnene Erinnerungen dagegen möchte man gern beschützen. Am liebsten würde man sie mit einem Sicherheitscode versehen: read only. Aber manchmal fügt das Leben dem Gedächtnis Erinnerungen hinzu, die etwas an den Erinnerungen verändern, die schon vorhanden waren. Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy erfuhr dies auf unsanfte Weise im Januar 2000, als aus den Archiven des Geheimdienstes Akten zum Vorschein kamen, die ihm deutlich machten, dass er bereits seit seinen Jugendjahren in einer anderen Wirklichkeit gelebt hatte, als er zu leben dachte (S. 235). In einem Buch, dem er den Titel Verbesserte Ausgabe gab, beschrieb Esterházy, wie er geliebte Jugenderinnerungen mit einer neuen, hier und da beschämenden Interpretation versehen musste. Das ist auch eine Form des Vergessens: keinenZugang mehr zu dem zu haben, was Erinnerungen ursprünglich für einen selbst bedeuteten.
Wahrscheinlich gibt es keine Technik, die mit so großer Leidenschaft gegen das Vergessen eingesetzt wird, wie die Fotografie (S. 253). Es gibt auch keine Technik, die in ihrem Verhältnis zum Gedächtnis so viele Paradoxe enthält. Am liebsten fotografieren wir die unvergesslichen Momente – offenbar im Bewusstsein, dass auch das Unvergessliche vergessen werden kann. Wir hoffen, dass Fotos unser Gedächtnis stützen, und merken früher oder später, dass diese Aufnahmen anfangen, unsere Erinnerungen zu ersetzen, ein Effekt, der vor allem bei Porträts auftritt. Bei verstorbenen Lieben bringt das mit sich, dass sich das Foto vor die Erinnerung schiebt. Warum bewahrt unser Gedächtnis nicht das Foto und die Erinnerungen? Die Fotografie wurde zwar auch als ›Spiegel mit einem Gedächtnis‹ bezeichnet, aber was erhoffen wir uns denn von einer Gedächtnisprothese, die uns so viel vergessen lässt?
Die Unfolgsamkeit des Gedächtnisses äußert sich beim Vergessen in zwei Richtungen. So etwas wie eine Vergessenstechnik gibt es nicht. Die Griechen haben uns zwar die Gedächtniskunst hinterlassen, mit dem lateinischen Begriff als ars memoriae bezeichnet, aber keine ars oblivionis, nichts, was wir benutzen könnten, um etwas absichtlich zu vergessen. Leider fehlt auch die umgekehrte Einrichtung: eine Sicherung gegen das Vergessen. Was wir vergessen oder eben nicht vergessen, liegt an unserem Gedächtnis und nicht an uns. Eine Technik des Vergessens gibt es als Gedankenexperiment: In dem Film Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004) konnte die Hauptperson sich an die fortschrittlichen Computer der Firma Lacuna wenden, um ihre Erinnerungen an eine unglückliche Liebe zu löschen. Dasselbe Gedankenexperiment fand sich 1976 auch in einer Geschichte über Herrn Bommel, Das Büchlein vom Vergessen. Marten Toonder präsentierte hierin eine kleine, weise Philosophie des Vergessens (S. 281). Dass die Technik des Vergessens in der Bommel-Geschichte von einem ›Magister der schwarzen Künste‹ erfunden wurde, deutet schon an, dass man sich überlegen sollte, wie gut es eigentlich ist, Erinnerungen, die einen bedrücken, löschen zu lassen.
Der Vorsatz, nichts zu vergessen, verwandelt sich in eine intensive Sehnsucht, wenn es um Erinnerungen an geliebte Verstorbene geht. Von
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