Das Buch des Vergessens
Canetti die Erinnerung in Ichform schildert und die Erklärung in der dritten Person (»der Zweijährige«, »das Kind«), suggeriert, dass die Erinnerung unabhängig von der Erklärung beschrieben werden kann als eine ursprüngliche, reine Erfahrung – eine perspektivische Zweiteilung, die in Wirklichkeit nicht existiert.
Die Sammlung Scheepmaker
Im autobiografischen Gedächtnis befinden sich vor und nach ersten Aufzeichnungen leere Seiten. Obwohl sie den Anfang unserer Existenz als ein Wesen mit Gedächtnis markieren, unterstreichen diese leeren Seiten zugleich, von wie viel Vergessen die ersten Male umgeben sind. Die erste Erinnerung des Schriftstellers J. Bernlef ist, dass er durch Gitterstäbe schaut und laut »Uilie, Uilie!« ruft. Seine Eltern erklärten ihm später, er habe damals im Laufstall gesessen und ihr deutsches Dienstmädchen gerufen, das Uli hieß. Seine nächste Erinnerung bezieht sich auf ein drei Jahre später liegendes Ereignis. Frederick Forsyth war als Anderthalbjähriger von seinen Eltern kurzzeitig im Kinderwagen zurückgelassen worden, bewacht von einem Hund. Aber er hatte selbst Angst vor dem Hund, kletterte heraus, fiel, und der Hund leckte ihm durchs Gesicht. Danach folgt ein Loch von anderthalb Jahren. Das Kindergedächtnis ähnelt einem Motor, der gleich nach dem stotternden Start wieder aussetzt.
Die ersten Erinnerungen von Bernlef und Forsyth finden sich in dem 1988 erschienenen Büchlein Die erste Erinnerung.
Anmerkung
Der Journalist Nico Scheepmaker hatte sechs Jahre lang die Leute, denen er privat und beruflich begegnete, nach ihrer ersten Erinnerung gefragt. So war eine Sammlung von 350 ersten Erinnerungen entstanden. Scheepmaker stellte an seine Sammlung keinerlei wissenschaftlichen Anspruch. Das hat manchmal Nachteile – er fragte nicht jedes Mal, wie alt der Erzähler bei der ersten Erinnerung war, sodass von ›nur‹ 263 Erinnerungen bei näherer Betrachtung das Alter festgestellt werden kann –, aber auch Vorteile. Er hatte sich nicht im Vorhinein in Theorien über das Gedächtnis in der Kindheit vertieft und notierte die Erinnerungen ohne Kommentar oder Bearbeitung. Psychologen haben im letzten Jahrhundert verschiedentlich Sammlungen erster Erinnerungen für die Forschung angelegt, aber fast immer stützen sich diese Sammlungen auf Fragebogen, die unter Studenten verteilt worden waren. Die Sammlung Scheepmaker umfasst die Erinnerungen von Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Berufen kommen und auch bezüglich Herkunft und Lebensalter sehr verschieden sind. Was aber diese Kollektion anderen Sammlungen vor allem voraushat, ist ihr Umfang. Man frage zehn Menschen nach ihrer ersten Erinnerung, und man erhält zehn Geschichten, man frage 350 Menschen, und man erhält Muster.
Jede erste Erinnerung ist mit Vergessen vermischt. Häufig erweist sich die erste Erinnerung bei näherer Betrachtung nicht als die erste. Scheepmaker selbst dachte, die Erinnerung an das noch warme Weißbrot, das er in den Ferien holen durfte, sei seine erste, bis seine Mutter erzählte, die Familie sei frühzeitig aus diesenFerien zurückgekehrt, weil der Opa gestorben war, und er sich bewusst wurde, dass er auch noch Erinnerungen an diesen Opa hatte. Verleger Geert van Oorschot schickte Scheepmaker per Brief nachträglich eine erste Erinnerung, die noch älter war als die zuvor angegebene erste Erinnerung. Viele Menschen hatten drei, vier frühe Erinnerungen, die zusammengehörten, zum Beispiel, weil sie noch aus einer Zeit vor einem Umzug stammten oder weil jemand darin vorkam, der kurz danach starb. Die Chronologie hatten sie vergessen.
Manchmal hatten die Leute auch vergessen, woher genau ihre erste Erinnerung stammte. Hatten sie das wirklich selbst erlebt, war es ein Traum oder eine Geschichte, die in der Familie erzählt wurde? Berüchtigt ist das Foto, das zur Erinnerung wird. Ein Schwarz-Weiß-Foto, irgendwann einmal flüchtig gesehen – ein paar Jahre später hat das Gedächtnis den festgehaltenen Moment zum Leben erweckt und eine schillernde Erinnerung daraus gemacht, etwa so, wie manche Filme mit einem Standbild in Sepia beginnen, das plötzlich in Bewegung gerät. Der Journalist Henk Hofland lebte lange in der Überzeugung, seine erste Erinnerung sei ein Traum gewesen: Im Wassergraben hinter seinem Elternhaus in Rotterdam sei das Kreuzfahrtschiff Statendam mit seinen drei Schornsteinen vorbeigefahren. Später erzählte er seinem Vater von diesem Traum und erfuhr, dass es gar kein
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