Das Buch des Vergessens
entfernt. Abstand zur eigenen Erinnerung hat jeder. Aber bei einem Autobiografen potenziert sich dieser Abstand sozusagen ins Quadrat: Er muss für seine Erinnerungen Worte finden und sie in einer Erzählung ordnen.
Für den Gedächtnistyp, um den es hier geht, verwenden Psychologen seit den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts einen Fachbegriff – autobiografisches Gedächtnis –, der mit Assoziationen verbunden ist, die weitaus frühere Überlegungen in der literarischen Theoriebildung über Autobiografien aufnehmen. Philippe Lejeune schrieb schon 1975: »Jeder Mensch trägt so etwas wie eine ständig überarbeitete Rohfassung seiner Lebensgeschichte in sich.«
Anmerkung
Ein Vierteljahrhundert später kommt man in der psychologischen Forschung zu einer ganz ähnlichen Schlussfolgerung: Unsere Erinnerungen sind eher Rekonstruktionen als Rekapitulationen unserer Erlebnisse, und diese Rekonstruktionen sind nicht nur von der Person beeinflusst, die wir einst waren, sondern zu der wir geworden sind, nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart, in der die Erinnerung geweckt wurde. Die Rohfassung wird angepasst, das passiert uns passiv, wir schreiben unsere Erinnerungen nicht selbst neu, das wird für uns erledigt, und in denAugenblicken, in denen wir mit all diesem Neugeschriebenen konfrontiert werden – beim erneuten Lesen eines Tagebuchs, eines alten Briefs –, sind wir selbst am meisten erstaunt, was seither alles aus dem Erlebten heraus- und durchgestrichen wurde.
Oder dazugeschrieben. In seiner Autobiografie Die gerettete Zunge schreibt Elias Canetti über seine frühste Erinnerung:
Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zur Tür heraus, der Boden vor mir ist rot, und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist. Gegenüber von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Türe und ein lächelnder Mann tritt heraus, der freundlich auf mich zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: »Zeig die Zunge!« Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: »Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab.« Ich wage es nicht, die Zunge zurückzuziehen, er kommt immer näher, gleich wird er sie mit der Klinge berühren. Im letzten Augenblick zieht er das Messer zurück und sagt: »Heute noch nicht, morgen.« Er klappt das Messer wieder zu und steckt es in seine Tasche.
Anmerkung
Jeden Morgen wiederholt sich die Szene, und jeden Morgen ist der kleine Elias ängstlicher. Aber er behält es für sich, und erst etwa zehn Jahre später fragt er seine Mutter danach.
Am Rot überall erkennt sie die Pension in Karlsbad, wo sie mit dem Vater und mir den Sommer 1907 verbracht hatte. Für den Zweijährigen haben sie ein Kindermädchen aus Bulgarien mitgenommen, selbst keine fünfzehn Jahre alt. In aller Frühe pflegte sie mit dem Kind auf dem Arm fortzugehen, sie spricht nur Bulgarisch, findet sich aber überall in dem belebten Karlsbad zurecht und ist immer pünktlich mit dem Kind zurück. Einmal sieht man sie mit einem unbekannten jungen Mann auf der Straße, sie weiß nichts über ihn zu sagen, eine Zufallsbekanntschaft. Nach wenigen Wochen stellt sich heraus, dassder junge Mann im Zimmer genau gegenüber von uns wohnt, auf der anderen Seite des Flurs. Das Mädchen geht manchmal nachts rasch zu ihm hinüber. Die Eltern fühlen sich für sie verantwortlich und schicken sie sofort nach Bulgarien zurück.
Anmerkung
Elias Canetti, geboren am 25. Juli 1905, wurde in diesem Sommer zwei. Das Rot, das Mädchen, der Mann und das Messer bilden zusammen eine sehr ›frühe‹ frühste Erinnerung, denn üblicherweise stammen erste Erinnerungen eher aus der Zeit zwischen dem dritten und vierten Geburtstag.
Anmerkung
Und erste Erinnerungen an ein so umfassendes Ereignis wie dieses, das heißt mit einem zeitlichen Ablauf, kommen meist sogar noch später. Aber auch, wenn wir annehmen, dass diese Passage möglichst rein wiedergibt, was Canetti als erste Aufzeichnung in seinem Gedächtnis vorfand, enthält die Erinnerung Momente, die ein größtenteils noch sprachloses, gerade mal zweijähriges Wesen unmöglich so erlebt haben kann. Die drei Sätze, die der Mann zu ihm sagt, müssen erst später in Sprache umgesetzt worden sein. Jeder Versuch, sich seine Erlebnisse als Kind wieder zu vergegenwärtigen, bedient sich der Instrumente, die erst später zur Verfügung standen. Dass
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