Das Buch des Vergessens
für Gedächtnisexperimente. Seine Karriere als ›Henry M.‹ sollte über ein halbes Jahrhundert andauern und ihn zur berühmtesten Versuchsperson der neuropsychologischen Forschung der Nachkriegszeit machen. Er starb im Dezember 2008. ›In memoriam‹ will mehr als die Versuchsperson in ihm ehren.
In derselben neuropsychologischen Nachkriegsliteratur ist ›Soldat S.‹ gerade mal eine Fußnote (S. 105). Im März 1944 erlitt er durch einen Granateneinschlag an der deutschen Front schweren Schaden an seinem Hinterhauptslappen. Die Folge war eine ausgesprochen spezifische Gedächtnisstörung: S. war nicht mehr in der Lage, sich Gesichter zu merken oder bekannte Gesichter zu erkennen. Wenn er seiner Mutter auf der Straße begegnete, ging er einfach an ihr vorbei, selbst sein eigenes Gesicht im Spiegel konnte er nicht einordnen. Der Fall des Soldaten S. führte 1947 zur Diagnose ›Prosopagnosie‹ oder ›Gesichtsblindheit‹. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass es für dieses Leiden auch eine angeborene Variante gibt und es viel häufiger vorkommt, als man angenommen hat.
Die Hirnschädigung bei dem nach Sergej Korsakow benannten Syndrom gehört zu den tiefstgreifenden Formen des Vergessens (S. 119). Der Gedächtnisverlust erstreckt sich über beide Zeitachsen: Große Teile der Vergangenheit sind gelöscht, aber auch die Zukunft ist in Mitleidenschaft gezogen, denn neue Erlebnisse prägen sich nicht mehr ein. Das macht den Patienten zu einem Invaliden, auch wenn er seine Behinderung oft auffallend lakonisch hinnimmt: Er kann sich schließlich nicht mal an einen Grund zum Klagen erinnern. Lange ist man davon ausgegangen, dass bei Korsakow-Patienten das semantische Gedächtnis – das Gedächtnis für Fakten und Bedeutungen – verschont bleibt. Aber Experimente mit Professor Z. – kein Forscher, sondern ein Korsakow-Patient – haben diese Vorstellung widerlegt. Professor Z. hatte einige Jahre vor dem akuten Beginn seiner Krankheit seine Autobiografie verfasstund konnte so anhand von Material getestet werden, bei dem man sicher war, dass es sich einst in seinem Gedächtnis befunden hatte. Die Versuche zeigten, dass auch sein semantisches Gedächtnis Lücken aufwies und dass diese umso umfangreicher waren, je mehr sich die Fragen auf eine kürzer zurückliegende Vergangenheit bezogen. Die Leerstellen in seinem Gedächtnis wiesen den verräterischen Verlauf des Korsakow-Syndroms auf: eine sanfte Böschung, gefolgt von einem steilen Abgrund.
Henry M., Soldat S. und Professor Z. litten an Varianten von Vergessen, die man – sofern man gesund bleibt – selbst nicht erfahren wird. Aber auch das Vergessen, das nicht Teil eines pathologischen Gedächtnisverlusts ist, hat zu Erkenntnissen über Gedächtnisprozesse beigetragen. In den vergangenen zwanzig Jahren hat man versucht, ›Kryptomnesie‹ experimentell in den Griff zu bekommen, das Phänomen, auf eine anscheinend vollkommen originelle Idee zu kommen, bei der sich später herausstellt, dass man sie in Wirklichkeit von jemand anderem gehört oder irgendwo gelesen hat (S. 133). Das kann die Ursache sein für etwas, das leicht beschönigend als ›unbewusstes Plagiat‹ bezeichnet wird. Unter Laborbedingungen ist Kryptomnesie durch eine subtile Manipulation von Vergessensprozessen leicht hervorzurufen. Die Kunst liegt darin, zu einem bestimmten Zeitpunkt genau so viel Vergessen unter die Erinnerung zu mischen, dass die Erinnerung nicht verschwindet, aber auch nicht als Erinnerung erkannt wird.
Eine dritte Überlegung war, einen Versuch zu wagen, die langen Wurzeln heutiger Auffassungen über Vergessen aufzuzeigen. In der gegenwärtig von vielen vertretenen Theorie, unser Gehirn bewahre eine bleibende Spur von allem, was wir erfahren, sind Reste neurologischer Experimente sichtbar, die in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts durchgeführt wurden (S. 209). In den heutigen Vorstellungen von ›Verdrängen‹ schwingen Auffassungen mit, die Freud schon ab 1895 formulierte (S. 169). Noch immer werden Traumata ›verschüttet‹ und stiften aus dem Unbewussten heraus Unheil. In jüngsten Diskussionen wie in denen über die ›wiedergefundenen Erinnerungen‹ werden Metaphern verwendet, die von der Psychoanalyse eingeführt wurden und demnach schonlänger als ein Jahrhundert unsere Ideen über Vergessen beeinflussen. Und man kann noch weiter zurückgehen: Dass ein Teil des Gehirns nicht weiß, was im anderen vor sich geht, war schon weit vor Freud von
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