Das Buch des Vergessens
beschädigen. Dank HM war nun nachgewiesen, dass der Hippocampus – bei ihm an beiden Seiten teilweise entfernt – für die Speicherung neuer Erinnerungen unerlässlich ist. Und offensichtlich sind Erinnerungen nicht im Hippocampus selbst gespeichert, denn HM verfügte ja noch über einen Teil seiner ›alten‹ Erinnerungen. Dass er diese Erinnerungen noch aufrufen konnte, bedeutete, dass die Speicherung von Erinnerungen nicht durch dieselbe neuronale Maschinerie geschieht wie deren Reproduktion.
HM blieb lange Zeit der eindeutigste Fall anterograder Amnesie, den die medizinische Welt kannte. Forscher des MIT bestellten ihn regelmäßig zu Experimenten in ihr Labor, und dies führte zu einer Reihe neuer Erkenntnisse über die neuronale Repräsentanz von Gedächtnisprozessen. HM , von jedermann als freundlich und verträglich beschrieben, war stets aus vollem Herzen bereit, an Experimenten teilzunehmen oder sein angeschlagenes Hirn mit der neusten bildgebenden Technik scannen zu lassen. Noch 2004, als er schon hoch in den Siebzigern war, ließ er sich willig in ein MRT – Gerätschieben.
Anmerkung
Ein Nachruf in der Lancet zog die Bilanz aus fünfundfünfzig Jahren Bereitwilligkeit: Etwa einhundert Wissenschaftler hatten seine Dienste als Versuchsperson in Anspruch genommen, seine Initialen fanden sich in fast zwölftausend wissenschaftlichen Artikeln.
Anmerkung
Wie viel oder wenig Raum all jene Artikel HM s Geschichte auch gönnen, dies sind die handfesten Bestandteile: Eine im Jahre 1953 nicht zu behandelnde Epilepsie, ein mutiger Chirurg, eine experimentelle Operation und ein von der Epilepsie fast geheilter Patient, dessen kooperative Haltung die Hirnforschung um erhebliche Schritte nach vorn gebracht hat. Aber über HM s Schicksal kann man auch eine andere Geschichte erzählen.
Henry Molaison (1926 –1953)
Dass Molaison an anterograder Amnesie litt, bedeutete nicht, dass seine Erinnerungen an die Zeit vor der Operation unangetastet geblieben waren. Die Monate, die dem Eingriff unmittelbar vorausgingen, waren gänzlich verschwunden. Auch der Tod eines Lieblingsonkels im Jahr 1950 war aus seinem Gedächtnis gelöscht. Die Erinnerungen, die in der Vergangenheit weiter zurücklagen – die Schulzeit, die Ferienjobs, die Kindheit –, wurden schnell zu Fetzen und Fragmenten, sie wollten sich nicht mehr zu Geschichten zusammenfügen. Oder vielleicht sollte man sagen, dass sie gerade dazu nun wurden: endlos wiederholte Anekdoten, zum zigsten Mal aufgewärmte Abenteuer. Nach der Operation tauchten die alten Erinnerungen zwar noch auf, aber das Bewusstsein, dass er sie eine Viertelstunde zuvor oder sogar erst vor wenigen Minuten mit jemandem geteilt hatte, fehlte. Sie veränderten sich zu einem Repertoire, das im Laufe der Jahre immer schmaler wurde. Der Umgang mit Molaison erforderte viel Geduld.
Henry Molaison mit einundzwanzig
Als der Wissenschaftsjournalist Philip Hilts Anfang der Neunzigerjahre biografische Informationen für ein Buch über Molaison einzuholen versuchte, waren dessen Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten bereits verstorben. Er musste sich mit Geschichten von Bekannten, Notizen aus der Anamnese und den mittlerweile wirklich sehr vage gewordenen Erinnerungen von Molaison selbst begnügen, damals schon Mitte sechzig.
Anmerkung
Fotos gab es kaum, keine Familiendokumente, nichts, was hätte helfen können, nachträglich noch Erinnerungen aufzurufen. Hilts bekam heraus, dass Henry am 26. Februar 1926 geboren wurde und in Hartford und Dörfern der unmittelbaren Umgebung aufwuchs. Das bedeutete eine Jugend im Freien mit Angeln, Schwimmen im heimischen Stausee und vor allem Jagen. Henry hegte sein Leben lang eine Leidenschaft für Feuerwaffen. Über seine sonstigen Hobbys ist nur bekannt, dass er gern Kreuzworträtsel löste und Marschmusik von John Philip Sousa liebte. Sein Vater war Elektriker, und als Junge hatte Henry sich vorgenommen, in seine Fußstapfen zu treten. Aber an seinem sechzehnten Geburtstag bekam er auf dem Rückweg von einem Ausflug im Chevrolet neben seinem Vater sitzend einen epileptischen Anfall, der erste einer langen Reihe, die bald an Heftigkeit und Frequenz zunehmen sollte. Das veränderte nicht nur Henrys Zukunft. Sein Vater, zunächst beunruhigt, später enttäuscht und schließlich verbittert, dass dies ausgerechnet seinem einzigen Sohn passieren musste, begann, sich dem Familienleben zu entziehen, und verfiel dem Alkohol. Henry musste seine Pläne, Elektriker zu
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