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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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gewesen. Ein Stein, der sich ohne nachweisliche Ursache löste, sei auf den Fuß des Standbildes gefallen, das einstürzte, zu Pulver wurde und sich in einen Berg Staub verwandelte, der wegwehte wie die Spreu auf einem Dreschplatz im Sommer. Daniel fährt mit der Deutung fort. Sein Gott habe Nebukadnezar vom Ende der Zeiten träumen lassen. Der goldene Kopf sei sein eigenes Reich, das Silber, Kupfer und Eisen die Königreiche, die nach seinem kommen werden. Die Füße aus Eisen und Ton stünden für die Uneinigkeit im letzten Reich. Nach dieser Deutung kniet Nebukadnezar dankbar vor Daniel nieder, erkennt, dass dessen Gott der Gott der Götter ist, und stellt ihn an die Spitze aller Weisen von Babylon.
    Das ist die Geschichte, wie sie in modernen Bibelübersetzungen zu finden ist. Aber an zwei Stellen fehlt ein entscheidender Satz, der daraus eine etwas andere Geschichte macht.
Anmerkung
Als die Seher vor Nebukadnezar stehen und ihn bitten, den Traum zu erzählen, sagt er nicht sofort, sie sollten ihm erzählen, was er geträumt habe, sondern er sagt erst, das wisse er nicht mehr. In der Luther-Übersetzung von 1545 heißt es: »Es ist mir entfallen.«
Anmerkung
Und wenig später, als die Seher drängen: Warlich ich mercks / das jr frist suchet / weil jr sehet / das mirs entfallen ist (Luther 1912: Wahrlich, ich merke es, dass ihr Frist sucht, weil ihr seht, dass mir’s entfallen ist). Er hatte seinen Traum vergessen. Dass er von den Sehern verlangte, sie sollten ihm erzählen, was er geträumt hatte, war erst in zweiter Instanz ein Test, er machte aus der Not eine Tugend, es gab schlichtweg keine andere Lösung. Der Traum, so erschreckend er auch gewesen sein mag, war weg, vergessen – oder zumindest so versteckt, dass die Bilder, die Daniel beschrieb, zwar erkannt, aber nicht aufgerufen werden konnten.
    Über die Ursache dieses Vergessens, dem Nebukadnezars oder unseres eigenen, können keine abschließenden Aussagen getroffen werden. Aber unser Irrweg durch ein altes und dunkles Haus hat doch etwas mehr ergeben als gar nichts. Es gibt die Faktoren, die mit der Struktur des Traums zu tun haben. Auch im Alltag hat unser Gedächtnis mehr Schwierigkeiten mit einzelnen, bruchstückhaften Elementen als mit einem zusammenhängenden Ganzen; Träume sind häufig verworren. Wir wissen auch, dass das Gedächtnis leichter etwas festhält, das wir vorwärtsgerichtet behalten können; vielen Träumen folgen wir notgedrungen entgegen ihrer chronologischen Reihenfolge. An den Rändern des Schlafs funktioniert das Gedächtnis spürbar schlechter. Jeder hat schon einmal erlebt, dass er nachts mit jemandem, der einen Moment wach war, ein kurzes, zusammenhängendes Gespräch geführt hat, das diese Person am nächsten Morgen vollkommen vergessen hatte; der Traum kommt, was das angeht, zu einem ungünstigen Moment. Und dann haben wir noch die Faktoren, die mit der Transformation oder der Übersetzung zwischen zwei kognitiven Systemen zu tun haben, die nicht automatisch koordiniert sind, wie etwa zwischen Bild und Wort. Visuelle Szenen enthalten ungeheuer viel Information: Man betrachte nur einmal vier Sekunden lang ein Foto, und man kann vier Minuten damit verbringen, in Worten zu erzählen, was man darauf alles gesehen hat. Nicht nur die Übersetzung selbst ist mühsam, auch die bloße Tatsache, dass die Übersetzung Zeit braucht, ist ein kritischer Faktor: Während man sich selbst oder anderen am Schluss beginnend erzählt, was man träumte, purzelt am anderen Ende stillschweigend schon der Anfang des Traums über die Ränder des Gedächtnisses. Das Festhalten von Träumen ist buchstäblich Sekundensache, es ist kein Augenblick zu verlieren. Nebukadnezar wird dies in jener Nacht im Jahre 603 vor Christus gespürt haben, Mary Calkins erfuhr es im Jahr 1893, als sie ihren Arm nach den Streichhölzern ausstreckte, und den Träumenden, die in irgendeinem Schlaflabor an den EEG – Geräten hingen, erging es erstrecht nicht anders. Wenn Dement und Wolpert ihren Versuchspersonen nach dem Wecken auch nur ein paar wenige Augenblicke zustanden, in denen sie etwas anderes taten, als nach dem Diktafon zu greifen, um ihre Traumgeschichte aufzuzeichnen – kurz die Decken richten, ein Schlückchen Wasser trinken –, dann war nichts mehr zum Aufzeichnen da.
Anmerkung

In memoriam Henry M.
    Der Tod des Henry Gustav Molaison am frühen Abend des 2. Dezember 2008 kam nicht unerwartet. Er war 82 Jahre alt, und seine Gesundheit ließ schon lange zu

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