Das Buch des Vergessens
wünschen übrig. Aufgrund seiner Knochenentkalkung, eine Nebenwirkung der Antiepileptika, die er schon seit seinem sechzehnten Lebensjahr verschrieben bekam, konnte er nicht mehr stehen oder gehen. Molaison bewegte sich in einem Rollstuhl durch die Flure des Pflegeheims in Hartford, Connecticut, in das er Mitte der Achtzigerjahre aufgenommen worden war. Apnoe störte seinen Schlaf. Seine Milz war geschwollen. Er schluckte mehr als ein Dutzend verschiedene Medikamente. Zu seinen Leiden hatten sich schließlich noch weitere Atemprobleme gesellt. Nahe Familienangehörige, die an seinem Bett Wache hätten halten können, gab es nicht, er war unverheiratet geblieben und hatte nur noch einen entfernten Neffen. Molaison starb fünf Minuten nach fünf. Als offizielle Todesursache wurde ›Lungenversagen‹ angegeben.
Das Team des Pflegeheims hatte in den Stunden vor seinem Tod einige wichtige Telefongespräche geführt. Eines ging zur anderen Seite des Kontinents, zu Jacopo Annese, Neuroanatom und Leiter des Brain Observatory der University of California. Er war 2006 schon einmal aus San Diego gekommen, um Molaison kennenzulernen.
Anmerkung
Als nun dessen Tod bevorstand, bestieg er erneut das Flugzeug zur Ostküste. Annese erreichte das Pflegeheim kurz nach Molaisons Tod. Ein zweites Gespräch galt der Neurologin Suzanne Corkin, die am zweihundert Kilometer entfernten Massachusetts Institute of Technology ( MIT ) arbeitete. Sie reservierte schon einmal Zeit für einen Postmortem- MRT – Scan, eine Magnetresonanztomografie.
Nachdem man offiziell den Tod festgestellt hatte, überschlugen sich die Ereignisse. Innerhalb weniger Stunden lag Molaisons Leichnam im Scanner des MIT . Hier erfolgte zum letzten Mal eine Aufnahme seines Gehirns. Danach wurde es aus dem Schädel entfernt und für den Transport ins Brain Observatory bereitgestellt. Mittlerweile ist Molaisons Gehirn in 2401 Schnitte zerlegt. Jeder Hirnschnitt wird fotografiert und digitalisiert werden. Die gesamte Operation soll schlussendlich ein virtuelles Gehirn ergeben, das online gestellt werden wird.
Weswegen dieser ganze Aufwand für ein altes, von Medikamenten angegriffenes Gehirn? Wer war dieser Molaison?
HM , die Geschichte
Bis zu seinem Tod war sein Name sorgfältig geheim gehalten worden, und wahrscheinlich wird er auch schnell wieder vergessen sein. Aber als HM ist Molaison schon über ein halbes Jahrhundert im kollektiven Gedächtnis der Neurowissenschaften verankert. Der Artikel aus dem Jahr 1957, der von der verheerenden Gehirnoperation berichtete, die ihm sein Gedächtnis raubte, ist bis auf den heutigen Tag die meistzitierte Publikation in der Neurologie.
Anmerkung
HM s Geschichte hat in Hunderte von neurologischen Handbüchern und Einleitungen zur Neuropsychologie Eingang gefunden. Sie wird immer auf dieselbe Weise erzählt. Die Geschichte beginnt im Sommer 1953, als HM , damals 27 Jahre alt, ins Krankenhaus von Hartford aufgenommen wird. Er hat schwere epileptische Anfälle, die immer schneller aufeinanderfolgen. Die Epilepsie spricht nicht auf Medikamente an. Der Chirurg schlägt vor, ihn zu operieren und an beiden Seiten einen Teil des Gehirns zu entfernen, in der Hoffnung, mit diesem Eingriff den Herd der Epilepsie zu beseitigen.
Henry Molaison (1926 – 2008). Foto
aus den Siebzigerjahren,
Molaison war damals um die fünfzig.
Die Operation gilt vor allem dem Hippocampus, einem Organ, das links und rechts an der Innenseite des Temporallappens liegt, auf Höhe der Schläfe. Er hat die Form eines Seepferdchens – daher der Name – und reagiert ausgesprochen empfindlich auf elektrische Reizung. Nach der Operation sind die Anfälle tatsächlich seltener. Aber schon bald stellt sich heraus, welchen Preis HM hierfür bezahlt hat: Ein Teil seiner Vergangenheit ist aus seinem Gedächtnis gelöscht, und – viel schlimmer – ihm fehlt nun die Fähigkeit, neue Erinnerungen zu bilden, eine Art von Gedächtnisverlust, der ›anterograde Amnesie‹ genannt wird.
So tragisch dies auch für HM ist, fährt die Geschichte fort, für die Neuropsychologie war dies ein gewaltiger Schritt nach vorn. Alzheimer und Korsakow verursachen ebenfalls Gedächtnisverlust, aber diese Krankheiten greifen das Gehirn als Ganzes an und gestatten keine Schlussfolgerungen zur Lokalisierung spezieller Gedächtnisprozesse. Ein Trauma von außen, wie beim Einschlagen einer Kugel, kann keine tiefer gelegene Schädigung verursachen, ohne zunächst die Außenseite des Gehirns zu
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