Das Buch des Vergessens
entwickelte Variante der Lobotomie: Zwischen den Windungen des Stirnlappens hindurch wurde ein Röhrchen gesteckt, um Gewebe abzusaugen. Bei der Operation an HM 1953 wandte er im Wesentlichen dieselbe Technik an, um weiter hinten gelegene Teile des Schläfenlappens zu entfernen.
Im Laufe der Jahre entwickelten sich im aufblühenden Spezialgebiet der Psychochirurgie verschiedene Varianten der Lobotomie. Freeman selbst entschied sich schließlich für ›orbital undercutting‹, ein Verfahren, bei dem er dicht über dem Auge durch die Augenhöhle ein schmales, doppelseitiges Messer in die Schädelhöhle trieb und dieses wie einen kleinen Scheibenwischer direkt unter dem Stirnlappen kurz hin- und herbewegte. An beiden Seiten durchgeführt, hatte diese Operation – von Gegnern ice pick surgery genannt – denselben Effekt wie die Operation mit Bohrlöchern und Leukotom, jedoch mit dem Vorteil, dass der Eingriff ambulant durchgeführt werden konnte. Diese Variante nutzte Freeman in ganz Amerika für Demonstrationsoperationen.
Arbeitsintensiver, aber auch präziser war eine 1949 publizierte Variante, bei der über beiden Augen Löcher in den Schädel gebohrt wurden, durch die der Chirurg ein pinzettenähnliches Instrument einführte. Hiermit schuf er ein wenig Platz zwischen den Windungen des Stirnlappens, sodass er mit einem silbernen Röhrchen tiefer gelegenes Hirngewebe absaugen konnte. Der Entwickler dieser Technik war ein begeisterter Anhänger Freemans: Bill Scoville, Hartford Hospital.
Anmerkung
Zwei Handschläge
Am liebsten wäre William Beecher Scoville Automechaniker geworden, doch auf Wunsch seines Vaters studierte er Medizin.
Anmerkung
Seine Leidenschaft für schnelle Sportwagen, vor allem rote Jaguarmodelle, blieb ihm jedoch ein Leben lang erhalten. Als Chirurg interessierte er sich vor allem für die technische Seite des Fachs: Er entwarf verschiedene Instrumente und führte eine neue Operationstechnik für Wirbelbrüche ein. Kollege Whitcomb beschrieb ihn als jeglichen Regeln und Vorschriften abgeneigt. Ende der Vierzigerjahre geriet Scoville in den Bann der Psychochirurgie. Innerhalb weniger Jahre führte er Hunderte von Operationen an schizophrenen, neurotischen, manischen oder psychotischen Patienten durch. Als Henry im Sommer des Jahres 1953 das Sprechzimmer von Doktor Scoville betrat und sich ordentlich vorstellte, war er zwei Handschläge von Edgas Moniz entfernt.
Aber was hatte er eigentlich zu fürchten? Er kam wegen seiner epileptischen Anfälle, und Lobotomie war schließlich für psychiatrische Leiden entwickelt worden, nicht für neurologische Störungen. Die Antwort ist, dass Lobotomie mittlerweile auch außerhalb des Spektrums psychiatrischer Störungen eingesetzt wurde, beispielsweise bei der Behandlung chronischer Schmerzen. Aber gefährlicher noch war die Mentalität auf dem Feld der Psychochirurgie. Manche Psychiater stellten nämlich ganz gelassen Patienten für ›experimentelle‹ Operationen zur Verfügung. Diese wurden auch gleich doppelseitig durchgeführt, und zwar an relativ großen Gruppen von Patienten. Mit neuen Operationsmethoden wartete man nicht, bis langfristige Auswirkungen dokumentiert waren. Eingriffe mit dem Leukotom oder dem Messer wurden ›blind‹ durchgeführt, die genaue Lokalisierung der zugefügten Verletzung war schwierig zu bestimmen. Theorien über die Funktionen in spezifischen Hirnbereichen fehlten: Die Stirnlappen waren terra incognita, und die Chirurgen, die sich daranwagten, fühlten sich auch wie halbe Entdeckungsreisende. Längst nicht alle Gehirnchirurgen operierten so unverfroren wie Freeman und seine Anhänger – die Lobotomie hat unter Neurologen auch immer vielWiderstand hervorgerufen –, aber es gab keine Möglichkeiten, bestimmte Operationen zu verbieten. Supervision fehlte, und kollegiale Beaufsichtigung, wenn überhaupt schon davon die Rede war, konnte nicht zwingend auferlegt werden. Dass Scovilles Praxiskollege Whitcomb, der Epilepsiespezialist, von der Operation, der sich Henry unterzog, abgeraten hatte, machte keinen Unterschied. Auch wenn Scoville nicht jeder Vorschrift abhold gewesen wäre, hätte er seelenruhig weiteroperieren können: Es gab keine Vorschriften.
William Beecher Scoville (1906 –1984)
Dass Henry bei Scoville und nicht bei Whitcomb landete, war nicht sein einziges Missgeschick. Anfang der Fünfzigerjahre hatte man in Amerika schon Zehntausende von Lobotomien durchgeführt, und Hausärzte und Familienmitglieder
Weitere Kostenlose Bücher