Das Buch des Vergessens
behauptete, dies sei vielleicht kurz nach der Operation der Fall, danach würde es sich schon wieder legen. Darauf hat er übrigens nicht gewartet: Die ersten Artikel schrieb er bereits zwei Monate nach den ersten zwanzig Operationen. Anderthalb Jahre später gelang Moniz die Veröffentlichung von einem Dutzend Artikeln in sechs Ländern. Das machte ihn zur zentralen Gestalt in einem Programm, das er ›Psychochirurgie‹ taufte, der Versuch, psychiatrische Probleme operativ zu lösen.
Der Leukotom bestand aus einem Stift mit einem Schacht, in dem ein scharfkantiger Draht verlief. Sobald der durch das Bohrloch gesteckte Stift die richtige Position erreicht hatte, wurde der Draht hineingedrückt, sodass sich an der Spitze ein Teil aus dem Schacht schob (links). Dann drehte der Chirurg den Stift ein paarmal um seine eigene Achse und schnitt damit einen kreisförmigen Kern aus dem weißen Stoff. Danach wurde der Draht im Stift wieder straff angezogen. Der herausgelöste Kern verblieb im Gehirn, war aber nun funktionell inaktiv. Durch die Variation von Winkel und Tiefe des Stifts konnten durch dasselbe Bohrloch mehrere Kerne gelöst werden. Die Ähnlichkeit mit einem Apfelbohrer gab der Operation in der angelsächsischen Literatur den Namen ›core operation‹.
In vielen Ländern nahmen Hirnchirurgen die Leukotomie in ihr Repertoire auf. Diese schnelle Verbreitung eines groben und theoretisch wenig überzeugenden Eingriffs hatte sicherlich auch mit einer gewissen Unzufriedenheit über die vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten zu tun. Psychoanalyse bewirkte bei schweren Störungen nur wenig, mit unruhigen, aggressiven oder suizidgefährdeten Patienten konnte man in einer Zeit ohne Psychopharmaka nicht viel mehr tun als sie einsperren, festbinden, sedieren oder mithilfe einer Überdosis Insulin ins Koma versetzen. Leukotomie war eine praktische, preiswerte und schnell erlernbare Technik. Vor allem in Amerika kam es zu einem intensiven psychochirurgischen Werbefeldzug. Verantwortlich für die Überquerung des Großen Teichs war Walter Freeman, ein Chirurg aus Washington.
Anmerkung
Er hatte denselben Kongress in London besucht, der Moniz zu seinem Eingriff inspiriert hatte, und hatte im Frühjahr 1936 einen seiner ersten Artikel über die Ergebnisse gelesen. Sofort hatte er selbst zwei Leukotome bestellt. Nach den Sommerferien führte er seine erste eigene Operation an einer depressiven, unruhigen Patientin durch. Erlöste in beiden Gehirnhälften nicht weniger als sechs Kerne. Nach der Operation stellte Freeman der Frau ein paar Fragen:
»Sind Sie glücklich?«
»Ja.«
»Erinnern Sie sich noch daran, wie ängstlich Sie waren, als Sie hierherkamen?«
»Ja, ich war sehr ängstlich, nicht wahr?«
»Warum eigentlich?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, das habe ich vergessen. Es ist jetzt nicht mehr so wichtig.«
Anmerkung
Freeman nannte den Eingriff ›Lobotomie‹, weil seiner Ansicht nach die Nerven selbst und nicht nur die Ausläufer durchgeschnitten wurden. Wie Moniz, der mittlerweile ein signiertes Exemplar seiner Monografie über Leukotomie nach Washington geschickt hatte, operierte Freeman so schnell wie möglich eine große Zahl von Patienten, damit er in Artikeln und auf Kongressen eine ausreichende Menge präsentieren konnte. Er ließ seine Patienten während des Eingriffs bei Bewusstsein: Sie mussten ein Lied singen oder in Siebenerschritten von Hundert an rückwärtszählen. Die besten Ergebnisse erzielte er, wenn er so lange Verbindungen durchschnitt, bis das Angstgefühl beim Patienten ziemlich plötzlich einer schläfrigen Gleichgültigkeit wich. Nach diesem final cut wurden die Öffnungen zugenäht.
Am Weihnachtsabend des Jahres 1936 operierte Freeman bereits seinen fünfzehnten Patienten, den er allerdings nach dem Eingriff erst wieder aufstöbern musste: Kaum war der Mann, ein Alkoholiker, zurück auf seiner Station, hatte er sich angezogen, einen Hut auf seinen noch verbundenen Kopf gesetzt und die Einrichtung verlassen, um sich in einer nahe gelegenen Kneipe zu betrinken. Dieser Zwischenfall zeigt schon, dass Freeman – noch einmal: genau wie Moniz – eine sehr großzügige Auffassung bezüglich einer Indikation für Lobotomie hatte.
Die Kandidaten litten an ›Melancholie‹, Angststörungen, Schizophrenie oder Zwangsstörungen, aber laut Freeman kamen auchAlkoholismus, Spielsucht und Homosexualität für eine operative Ausbesserung infrage.
Die 1949 von William Scoville
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