Das Buch des Vergessens
werden, fallen lassen: Mit seinem Leiden war die Arbeit auf einer Leiter zu gefährlich. Er schloss die höhere Schule zwar ab, durfte aber bei der Überreichung des Diploms nicht aufs Podium kommen, weil die Schulleitung einen Anfall fürchtete. Nach der Schule verrichtete er Hilfsarbeiten: Er schuftete im Lager eines Teppichladens oder stand am Fließband der Schreibmaschinenfabrik Underwood.
Im Sommer 1953 hatte sich die Epilepsie auf etwa zehn Absenzen am Tag und einen schweren Anfall pro Woche verschlimmert. Selbst die maximale Dosis seiner Antiepileptika konnte diese Anfälle nicht verhindern. Henry und seine Mutter suchten das Hartford Hospital auf, um sich zu erkundigen, ob die Spezialisten wirklich nichts tun konnten, was zur Erleichterung beitragen könnte. In diesem Krankenhaus führten zwei Chirurgen eine Gemeinschaftspraxis. Einer hieß Ben Whitcomb. Er hatte sich auf die chirurgische Behandlung von Epilepsie spezialisiert. Henry jedoch wurde Patient bei dem zweiten Chirurgen, William (›Bill‹) Scoville. Dessen Weg hätte er zu keinem schlechteren Zeitpunkt kreuzen können.
Lobotomie
Im Gespräch mit Henry und seiner Mutter – Vater Molaison begleitete sie nie – schlug Scoville eine ›experimentelle‹ Operation vor. Der Eingriff, den er sich vorstellte, war eine Variante der Technik, für die ein paar Jahre zuvor, 1949, der Nobelpreis für Medizin vergeben wurde. Der Laureat, der portugiesische Hirnchirurg Egas Moniz, hatte den Eingriff ›präfrontale Leukotomie‹ getauft, von ›leuko‹, weiß, und ›tome‹, schneiden. Bei dieser Operation beschädigte man an der Vorderseite beider Stirnlappen den weißen Stoff, das größtenteils aus Nervenausläufern bestehende Gewebe unter der grauen Oberfläche des Gehirns. Die Geschichte dieses Eingriffs wurde häufig dokumentiert, doch an die Einzelheiten gewöhnt man sich nie.
Anmerkung
Die erste Operation war 1935 bei einer dreiundsechzigjährigen Frau durchgeführt worden, die an Depressionen und paranoiden Wahnvorstellungen litt. Unter örtlicher Betäubung bohrte man über beiden Stirnlappen ein Loch in den Schädel. Der Assistent von Moniz – wegen seiner Gicht musste der sechzigjährige Moniz das Operieren anderen überlassen – stach eine Spritze in dieses Loch und injizierte reinen Alkohol in den weißen Stoff. Nach der Operation wurde die Frau auf die psychiatrische Abteilung zurückverlegt. Die Idee zu diesem Eingriff war Moniz ein paar Monate zuvor während eines Kongresses in London gekommen. Dort hatten die Neurologen Jacobsen und Fulton von der Yale University ihre Ergebnisse zur teilweisen Entfernung der Stirnlappen bei zwei Schimpansenweibchen präsentiert. Diese hatte zu schweren Lernstörungen geführt. Ganz nebenbei berichtete Jacobsen zudem, man habe beieinem der Tiere auch Verhaltensänderungen beobachtet. Vor der Operation hatte die Schimpansin regelmäßig Wutanfälle und weigerte sich ängstlich, den Testraum zu betreten, nach der Operation unterwarf sie sich den Experimenten willig, fast fröhlich. Nach der Präsentation erhob sich Moniz und fragte, ob eine derartige Operation nicht auch zur Behebung von Angstzuständen bei Menschen nutzbar sei.
Anmerkung
Wieder zurück in Lissabon, startete Moniz ein Programm, bei dem die Stirnlappen nicht entfernt, aber so beschädigt wurden, dass sie ihre Kontrolle über das restliche Gehirn teilweise verloren. Die gewebeabtötenden Alkoholinjektionen machten bald einem ›Leukotom‹ Platz, mit dem tiefer im Gehirn Verbindungen effizient durchtrennt werden konnten, ohne die Gehirnoberfläche dabei allzu schwer zu schädigen.
Die Theorie, die den Eingriff rechtfertigen sollte, ist schnell erklärt. Moniz war der festen Ansicht, dass die pathologischen Denkprozesse, die für psychiatrisches Leiden verantwortlich waren, sich im weißen Stoff stabilisiert hatten und dass diese Fixierungen weder durch Medikamente noch durch Therapie wieder daraus zu entfernen waren. Egal, welcher Art die Pathologie war – Sucht, Depression, paranoide Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Obsessionen –, nur die radikale Unterbrechung der neuronalen Kreise konnte tatsächliche Erleichterung bringen. Die Operation war zuvor nicht in Tierversuchen getestet worden. Die Schädigungen wurden gleich doppelseitig durchgeführt. Eine systematische Erforschung der langfristigen Konsequenzen unterblieb. Und die gab es sehr wohl: Die Patienten waren nach der Operation apathisch, träge, desorientiert. Moniz
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