Das Buch des Vergessens
Wenn er einen Elefanten zeichnen sollte, stritt er kurz darauf ab, eine solche Skizze angefertigt zu haben. Er hatte keine Ahnung, wo er war, aber das sei kein Wunder, erklärte er, er sei ja erst am Abend zuvor angekommen. DC befand sich jedoch schon sechs Wochen in der Einrichtung. Eine Laufbahn als Versuchsperson kam aufgrund seiner psychischen Störung nicht infrage.
Schon in diesem ersten Artikel, in dem HM als Versuchsperson auftritt, ist das Erstaunen darüber spürbar, was bei einer so gravierenden Störung wie dem Unvermögen, neue Erinnerungen zu bilden, noch alles intakt bleibt. Bei HM ist das semantische Gedächtnis verschont worden: Er verfügt noch über seinen Wortschatz, wenn auch den von 1953. Astronauten sind für ihn ›rocketeers‹, und Muhammed Ali heißt für ihn Joe Louis. Er hat nie erfahren, was ein ›Ayatollah‹ ist. ›Watergate‹ sei, so dachte er, der Name eines großen Wehrprojekts. Dass sein Arbeitsgedächtnis noch funktionierte, bedeutete, dass er sein altes Hobby, Kreuzworträtsel, nicht aufzugeben brauchte. Bis zu seinem Tod blieb er ein passionierterKreuzworträtsler, er löste drei bis vier pro Tag. Eine der letzten noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Publikationen enthält eine Analyse von etwa dreihundert von HM ausgefüllten Kreuzworträtseln.
Anmerkung
Auf die vielen Psychologen gestellte Frage, ob Kreuzworträtsel sich als Gedächtnistraining eigneten, müsste man nach HM antworten, man könne sogar mit einem schwer geschädigten Hirn noch seelenruhig weiterrätseln.
Dank HM wurden in der Gedächtnispsychologie Unterschiede eingeführt, die dort mittlerweile so heimisch sind, dass man glauben könnte, es habe sie schon immer gegeben. Das wird auch häufig von der Unterscheidung in Kurz- und Langzeitgedächtnis angenommen. In Wirklichkeit, erklärte der Psychologiehistoriker Kurt Danziger, begannen Psychologen das Gedächtnis erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entlang einer Zeitachse aufzuteilen.
Anmerkung
Richtig eingebürgert hat sich die Unterscheidung erst um 1970. Eine frühe Ausnahme war William James, der schon 1890 einen Unterschied zwischen einem ›primären‹ und einem ›sekundären‹ Gedächtnis machte. Das primäre Gedächtnis gehört eigentlich noch zum Bewusstsein: Es enthält Beobachtungen und Wahrnehmungen, die das Bewusstsein noch nicht verlassen haben, es ist das Gedächtnis, das zu unserem Bewusstsein das beiträgt, was wir momentan erleben. Nur das sekundäre Gedächtnis ist für James wirklich ein Gedächtnis im strengen Sinn: Was daraus zum Vorschein kommt, sind Erinnerungen, die offensichtlich außerhalb unseres Bewusstseins des Augenblicks gespeichert bleiben. Dieser Unterschied drückt genau aus, was HM fehlte. Was sich innerhalb des Fensters seiner bewussten Aufmerksamkeit abspielte, konnte er behalten. Er war in der Lage, eine zusammenhängende Unterhaltung über die unterschiedlichsten Themen zu führen. Wenn er Zeitintervalle schätzen sollte, war er darin fast so gut wie jeder andere, solange diese Intervalle nicht länger als etwa 20 Sekunden andauerten. Außerhalb dieses Zeitfensters konnte es sein, dass er eine Viertelstunde auf eine Minute oder eine Stunde auf zwei Minuten schätzte. Entscheidend war immer die bewusste Aufmerksamkeit. Sobald etwas kurz aus seinem Bewusstsein entschwunden war – jemandbrachte das Gespräch auf ein anderes Thema oder ging kurz aus dem Zimmer –, konnte es nicht mehr dorthin zurückkehren. Alle Assoziationsketten waren dann verschwunden. Die Tatsache, dass in seinem Bewusstsein nichts ergänzt wurde, brachte mit sich, dass er in späteren Untersuchungen sein eigenes Alter auf »etwa dreißig« schätzte, auch als er schon auf die sechzig zuging: Das immer älter werdende Gesicht im Spiegel vergaß er, sobald er sich abwandte. 1982 erkannte er sich nicht mehr auf einem Foto, das 1966 an seinem vierzigsten Geburtstag aufgenommen worden war.
Anmerkung
Von dem, was an seinem primären Gedächtnis vorbeizog, konnte er nichts in sein sekundäres Gedächtnis umbuchen.
Wahrscheinlich hat niemand mehr zum Unterschied zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis beigetragen als HM . Seine Störung bewies, dass der Hippocampus unverzichtbar ist für die Bereithaltung von Information und dem anschließenden Transport in die Teile des Gehirns, die sich für eine längere Lagerung besser eignen. Ein Teil des vor der Schädigung gespeicherten Materials konnte sehr wohl wieder zurück ins
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