Das Buch des Vergessens
Kurzzeitgedächtnis, sodass HM ab und zu von seinen Jagdabenteuern zu erzählen vermochte. Aber derselbe Einbahnstraßenverkehr hatte zur Folge, dass das erneute Erzählen der Geschichte nicht gespeichert wurde.
In den ersten Jahren seiner Schädigung nahm man an, die einseitige Blockade zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis gelte für jegliche Information. Aber 1962 präsentierte Milner einen aufsehenerregenden Befund. Gesunde Versuchspersonen können in mehreren Sitzungen Spiegelzeichnen lernen: Sie dürfen nur in den Spiegel schauen, wenn sie zum Beispiel zwischen zwei parallelen Linien einen Stern nachziehen müssen. Milner hatte denselben Test mit HM durchgeführt. Überraschenderweise wich seine Lernkurve kaum von der gesunder Versuchspersonen ab. Mit anderen Worten, er wurde genauso geschickt wie sie, vergaß jedoch, dass er Spiegelzeichnen gelernt hatte. Suzanne Corkin, damals noch Milners Studentin, wies wenige Jahre später nach, dass dies auch für andere motorische Fähigkeiten galt: HM lernte sie zwar, doch er vergaß den Unterricht.
Anmerkung
Wie im Übrigen auch die Menschen, die den Unterricht erteilten. Sogar nach vierzig Jahren regelmäßigen Kontaktsist Suzanne Corkin für HM eine Person, die ihm vage bekannt vorkommt: »Jemand, mit dem ich in der Schule war, in East Hartford High?«
Anmerkung
Fertigkeiten wie Spiegelzeichnen ordnet man heute dem ›prozeduralen Gedächtnis‹ zu, in dem auch gespeichert ist, wie man schwimmt oder Fahrrad fährt. Seit HM war klar, dass dieser Gedächtnistyp funktionieren kann, obwohl das autobiografische Gedächtnis gestört ist. Das Gelernte bleibt, der Unterricht ist weg. Das galt auch für Aufgaben, die mit der Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis zu tun haben. Milner, Corkin und Teubner zeigten HM eine Abbildung, bei der Teile fehlten, und fragten ihn, was diese Abbildung darstelle. Als ihm dies nicht gelang, zeigten sie eine vollständigere Abbildung, so lange, bis er das Bild identifizieren konnte. Bei einer Wiederholung des Tests einige Tage später gelang es HM viel früher, zu sehen, worum es ging.
Anmerkung
Noch einmal: Offensichtlich war etwas gespeichert worden, obwohl er bestritt, die Abbildungen jemals gesehen zu haben.
In vielen seiner Handlungen und in seinem Erleben erinnert HM an einen Korsakow-Patienten. Seine ›alten‹ Erinnerungen schrumpften allmählich zu einem endlos sich wiederholenden und immer beschränkteren Geschichtenrepertoire. Es gab diese vage, von niemandem zu beseitigende Unruhe bezüglich dessen, was gerade passiert war. Genau wie viele Korsakow-Patienten versuchte er, die Lücken in seinem Gedächtnis zu füllen. Während einer der letzten Untersuchungen fragte ihn jemand, wo er denn seine Brille gelassen habe. HM sagte, die sei ihm im Pflegeheim gestohlen worden. In Wirklichkeit hatte er sich ein paar Jahre zuvor einer Laseroperation unterzogen, sodass er keine Brille mehr brauchte.
Sogar Ereignisse, die sich jedem ins Gedächtnis einprägen würden, waren bei HM schon nach wenigen Minuten wieder gelöscht. Der MIT – Forscher Teubner hatte HM eines Tages zu einer weiteren Versuchsreihe abgeholt. Im strömenden Regen geriet das Auto vor ihnen ins Rutschen. Der Wagen drehte sich um seine eigene Achse und überschlug sich. Teubner bremste und rannte zu dem Wagen, der seitlich gekippt in der Böschung lag. Die Insassen, eine Mutter und ihre Tochter, waren sehr verstört, aber nicht schwer verletzt.Kurz darauf kam die Polizei hinzu. Der Wagen wurde wieder auf die Reifen gestellt, und Teubner kam durchweicht zu HM ins Auto zurück. Aufgeregt sprachen sie noch kurz über den Unfall und fuhren dann weiter. Eine Viertelstunde später fragte Teubner HM , ob er wisse, weshalb er so nass sei. »Weil Sie kurz aussteigen mussten«, sagte HM . »Um nach dem Weg zu fragen.«
Anmerkung
So verrannen für Henry Molaison die Jahre in einem Leben, das gleichzeitig leer und produktiv war. Vater Molaison starb 1966, seine Mutter hat Henry bis 1980, ihrem fünfundneunzigsten Lebensjahr, zu Hause versorgt. Schließlich zog er in ein Pflegeheim, wo er sich ein Zweibettzimmer teilte, von dem anderen Patienten durch einen Vorhang getrennt.
Unwissentlich trug Molaison auch zu William Scovilles Laufbahn bei. Die zunehmende Bekanntheit von HM als neurologischem Fall brachte Scoville Einladungen ein, bei denen er aus erster Hand von der Operation und ihren Folgen berichten sollte. Einer seiner Artikel eröffnet mit: »Ich
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