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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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von Patienten sahen sich mit einschneidenden und bleibenden Nebenwirkungen konfrontiert. Der Eingriff führte zu Gleichgültigkeit und fehlender Initiative. Auch die physischen Folgen waren schwer, manchmal fatal: Epilepsie, Blutungen, Infektionen. Das hatte Scoville dazu gebracht, seine Aufmerksamkeit auf den Teil des Gehirns zu lenken, der hinter den Stirnlappen lag: die Schläfenlappen. Er vermutete, dass eine Beschädigung oder Entfernung des darin gelegenen limbischen Systems einen günstigen Effekt auf psychiatrische oder neurologische Beschwerden hätte. In einem Mitte Oktober 1953 eingeschickten Artikel für das Journal of Neurosurgery schrieb Scoville, er habe mit Sektionen und dem Durchschneiden von Verbindungen in diesem Teil des Gehirns gute Ergebnisse erzielt, selbst wenn er an beiden Seiten große Teile des limbischen Systems entfernt habe. Bei zwei seiner Patienten war der Eingriff leider auf ›a very grave recent memory loss‹ hinausgelaufen.
Anmerkung
Einer dieser Patienten war der siebenundvierzigjährige DC , ein ehemaliger Arzt, der wegen paranoider Schizophrenie aufgenommen worden war. Der andere war HM .
    Henry hatte sich der Operation sechs Wochen zuvor unter lokaler Betäubung unterzogen. Deren Ablauf erinnerte sehr an dieTechnik, die Scoville 1949 selbst als Variante der Lobotomie entwickelt hatte. Erst schnitt man die Haut über Henrys Stirn quer ein, löste sie und klappte sie halb über seine Augen nach unten. Danach griff Scoville nach seinem Handbohrer (»Für 1 Dollar erhältlich in Werkzeugabteilungen oder Läden für Autozubehör«, steht in den Operationsnotizen) und bohrte zwei Löcher über den Augenhöhlen, jeweils rund drei Zentimeter im Durchschnitt.
Anmerkung
Durch diese Löcher steckte er Spatel, die wie ein Hebel die Stirnlappen anhoben. Das verursachte Dellen, die noch ein halbes Jahrhundert später auf Scans zu erkennen waren. Damit war der Weg frei für den eigentlichen Eingriff.
    Unter den Spateln durch schob Scoville sein silbernes Röhrchen ins Innere. Er drückte weiter, bis er den Punkt der Innenseite des Schläfenlappens erreicht hatte, und begann dann über eine Länge von etwa acht Zentimetern Gewebe abzusaugen. Der größte Teil des limbischen Systems verschwand im Röhrchen: die Amygdala als Ganzes und drei Viertel des Hippocampus. An beiden Seiten von Henrys Gehirn klaffte nun ein beträchtliches Loch. Scoville markierte die Höhlen mit Metallclips, gut sichtbar auf den Röntgenfotos, die diese Operation dokumentieren sollten.
    Aus späteren Artikeln geht hervor, dass Scoville dieselbe Operation viele Male durchgeführt hat, fast immer doppelseitig. Gerade Letzteres nahmen ihm Ärzte mit größerer Erfahrung in der operativen Behandlung von Epilepsie übel: Er hätte auf jeden Fall konservativ operieren müssen, einseitig, vor allem als der Eingriff, mit Scovilles eigenen Worten, noch »frankly experimental« war. Wahrscheinlich hat man damals nur deshalb nicht noch mehr Fälle anterograder Amnesie festgestellt, weil die meisten Menschen so gestört waren, dass ihr Gedächtnisverlust nicht auffiel. Aber Henry war überdurchschnittlich intelligent und hatte keine psychische Störung.
    Für sehr tragisch scheint Scoville Henrys Gedächtnisprobleme damals übrigens noch nicht gehalten zu haben, vielleicht erwartete er, dass sie sich mit den Jahren legen würden. Es ist nicht mehr als ein flüchtiger Hinweis in einem Artikel, in dem er erwähnt, er habe schon 230 hauptsächlich schizophrene Patienten mit unterschiedlichsten Eingriffen am Schläfenlappen operiert. Bei der Hälfte von ihnen habe dies zu Besserungen geführt. Bei depressiven und neurotischen Patienten habe er mit ›undercutting‹ gute Ergebnisse erzielt. Er endete mit einigen hoffnungsvollen Aussichten für die Psychochirurgie: Vielleicht werde die Erforschung des limbischen Systems auf Dauer zu selektiven Elektroschocks führen, die über den Hypothalamus zu verabreichen wären, damit man die Psychoanalyse endlich aus der Wissenschaft verjagen könne. Und möglicherweise würde ja die chirurgische Entfernung gewisser Hirnbereiche »die Schwelle für epileptische Anfälle erhöhen, sodass wir fortan ohne pharmazeutische Antiepileptika auskommen könnten«.
Anmerkung
    Das Gegenteil war der Fall. Innerhalb weniger Jahre sollte die verbesserte Wirksamkeit der Antiepileptika chirurgische Eingriffe an den Rand schieben. 1953 war wirklich ein schlechter Zeitpunkt, in Scovilles Sprechstunde zu erscheinen.

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