Das Buch des Vergessens
sah eine Forschungschance und nutzte sie – pretty much under everyone’s radar.«
Anmerkung
Annese selbst ist der Ansicht, dass Molaisons Gehirn weitere Spender nach sich ziehen wird. Bislang zögerten Menschen, die sich bereiterklärten, der Wissenschaft Organe zur Verfügung zu stellen, noch ein wenig, auch ihr Gehirn zu spenden: »Die Art und Weise, wie wir HM s Gehirn behandeln, wird andere dazu bringen, uns ebenfalls ihr Gehirn anzuvertrauen. Es ist doch wunderbar, wenn das eigene Gehirn zum Buch in dieser Bibliothek wird?«
Anmerkung
Wie viel das Gehirn von Henry Molaison noch zu der Wissenschaft beitragen wird, die er hoffte vorwärtszubringen, ist fraglich. Was im Internet zu sehen sein wird, ist ein fortschrittliches virtuelles Modell eines letztendlich alten und kranken Gehirns. Die genaue Lokalisierung der Schädigung, die seine Gedächtnisstörung verursacht hatte, war schon durch frühere Scans festgestellt worden. Zunächst waren es ganz andere Potenzen, die in San Diego genutzt wurden. Auf der ersten Seite der Website des Brain Observatory wurde man dazu eingeladen, einen Button Help with project HM anzuklicken. Danach landete man in einem praktischen Auswahlmenü: Three easy ways to designate your gift. Jetzt, da die zweite Phase angebrochen ist, das Einfärben und Scannen, kann man für 50 Dollar den Glasträger sponsern, auf dem die Scheibchen liegen ( Sponsor a slide ).
Anmerkung
Aufgrund der herrschenden Verhältnisse im neunzehnten Jahrhundert hatte man Phineas Gage und Monsieur Tan nicht zu fragen brauchen – ihr Schädel und Gehirn wurden ohne Umschweife konfisziert und ausgestellt. Molaison hat man ein offizielles Ersuchen vorgelegt. Corkin ist davon überzeugt, dass Molaison der Spende seines Gehirns von Herzen zustimmte. »Sein Wunsch, anderen Menschen zu helfen, wird dann erfüllt sein«, schrieb sie.
Anmerkung
Aber wasist die Zustimmung eines Menschen wert, der seine Zusagen augenblicklich wieder vergisst? Oder am Ende der Bitte den Anfang bereits wieder vergessen hat? Was können Begriffe wie Internet und online für ihn bedeuten?
Jüngsten Informationen zufolge ist HM noch ein anderes als nur ein virtuelles Reliquiendasein beschieden. Suzanne Corkin schreibt an einem Buch über Henry Molaison, die Filmrechte sind an Columbia Pictures und Scott Rudin verkauft. Letzterer ist vor allem als Produzent von No Country for Old Men bekannt.
Der Mann, der Gesichter vergaß
Sie warten an der Kinokasse. In der Schlange neben Ihnen steht eine Frau, sie kommt Ihnen vage bekannt vor. Sie nickt Ihnen freundlich zu. Unsicher nicken Sie zurück. Unterdessen graben Sie in Ihrem Gedächtnis: Wer ist das denn bloß? Erst nach der Hälfte des Films fällt es Ihnen wieder ein: Es ist die Frau, die Sie beim Bäcker immer bedient. Leicht beschämt denken Sie darüber nach, dass Sie diese Frau schon seit einigen Jahren mindestens zweimal pro Woche gesehen haben müssen.
Menschen einordnen, die wir außerhalb ihrer gewohnten Umgebung treffen, heißt es dann, sei oft mühsam. Aber verdeutlicht ein solcher Vorfall nicht noch etwas anderes? All die Male, bei denen Sie sie anschauten, wenn Sie bei ihr ein Vollkornbrot, geschnitten bitte, bestellten, haben Sie offensichtlich viel weniger auf ihr Gesicht geachtet, als Sie dachten, denn ihr Gesicht ist gerade das Einzige, an dem sich in der Warteschlange an der Kinokasse nichts verändert hatte. Wie sicher sind wir eigentlich, dass wir Menschen vor allem am Gesicht erkennen?
Es gibt ein neurologisches Leiden, für gewöhnlich ›Gesichtsblindheit‹ genannt, bei dem Menschen nicht in der Lage sind, Gesichter zu behalten. Auch, wenn es sich um Menschen handelt, mit denen sie tagtäglich zu tun haben, direkte Kollegen oder Mitbewohner, sie werden nicht erkannt, oder zumindest nicht am Gesicht. Dass es Patienten mit dieser Störung dennoch oft gelingt, Bekannte korrekt zu identifizieren, ist den Hinweisen zu danken, von denen Menschen ohne diese Beeinträchtigung – glauben sie jedenfalls – nicht abhängig sind: Kleidung, Frisur, die Stimme, das Wissen, dass man in dieser Umgebung nun einmal diese Person antreffen kann. Es ist, als würden sie das Porträt am Rahmen erkennen.
Menschen, die keine Gesichter erkennen können, hat es wahrscheinlich immer gegeben. Aber die offizielle Identifikation dieserStörung stammt erst aus dem Jahr 1947 und war, wie so viele neurologische Entdeckungen, eine unmittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs.
Soldat S.
Während des
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