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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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wurde eingeladen, HM kurz zu beschreiben, einen jungen Mann, der in der psychophysiologischen Gedächtnisforschung zu einem cas célèbre geworden ist.«
Anmerkung
Scoville sah seinen Ruf durch diese katastrophale Operation an Henry – und wahrscheinlich noch unzähligen unbekannt gebliebenen Patienten – in keiner Weise geschädigt. Er setzte seine glanzvolle Laufbahn fort, erhielt eine Ehrendoktorwürde und erlebte, dass ein Lehrstuhl nach ihm benannt wurde. Die Website der Society of Neurological Surgeons vermeldet, er sei Ehrenmitglied oder Präsident von nicht weniger als fünfundzwanzig Gesellschaften im In- und Ausland. Scoville kam im Februar 1984 bei einem Autounfall ums Leben.
HM , the movie
    Jede Zeit hat ihre eigenen Konventionen für den Umgang mit neurologischen Reliquien. Der Eisenbahnarbeiter Phineas Gage, dem 1848 eine Explosion einen Stab durch die Stirn getrieben hatte, überlebte dieses Unglück. Er wurde zur wandelnden Demonstration von Theorien über die Funktion des Stirnhirns, und man gedachte seiner im Warren Anatomical Museum von Harvard. Sein Schädel und der Stab sind die Prunkstücke der Ausstellung, die Website präsentiert sie gleich zu Anfang.
    Der Schuhmacher Leborgne mit dem Spitznamen ›Monsieur Tan‹ litt an Aphasie und hatte an der linken Seite seines Stirnlappens eine Schädigung, die Broca 1861 auf die Spur dessen brachte, was heute als Broca-Gebiet bezeichnet wird. Leborgne lebt weiter als formalinkonserviertes Gehirn im Pariser Musée Dupuytren.
    Henry Molaisons Gehirn befindet sich überall und nirgends.
    Am 16. Februar 2009, auf dem Flug von Boston nach San Diego, hatte Jacopo Annese es in einem Plastikbehälter neben sich stehen, auf dem Sitz am Fenster, damit niemand daran vorbeigehen musste.
Anmerkung
    Nach der Ankunft im Brain Observatory legte man das Gehirn zunächst einige Monate in ein Gelatinebad, um es zu härten. Danach wurde es tiefgefroren. Am 2. Dezember 2009, genau ein Jahr nach Henrys Todestag, kam sein Gehirn zum zweiten und letzten Mal unters Messer.
    In einer live im Internet zu verfolgenden Sitzung von 53 Stunden schnitten Annese und seine Mitarbeiter es in 2401 ultradünne Scheibchen, vertikal von vorn nach hinten, ungefähr parallel zur Stirnebene. Die Schnitte sind 70 Mikron dünn (7/100 eines Millimeters). Im Sommer 2010 wurden sie einer Nissl-Färbung unterzogen, damit sich die Zellstruktur deutlicher abzeichnet. Zum Schluss sollen sie gescannt und zu einem virtuellen Gehirn transformiert werden, einer ätherischen Sammlung in Bilder umgesetzter Messwerte, die im Internet zurate gezogen werden kann. Annese sieht das Projekt als eine Art neurologische Google Earth: Jeder Wissenschaftler kann das gewünschte Detail heranzoomen, von Hirngebieten bis zu individuellen Neuronen. Oder, wie er in einem Interview äußerte: Vielleicht zoome der Besucher ja auf das Leben selbst: »Ich sehe das ein wenig romantisch, ich glaube, dass ich eine Biografie schreibe. Wir gehen erneut durch sein Leben, indem wir Scheibchen für Scheibchen durch sein Gehirn gleiten und die Strukturen erforschen, die ihm das Leben gaben, wie er es erfahren hat.«
Anmerkung

    Jacopo Annese, Leiter des Brain Observatory der University of California
    Etwas weniger romantisch ist die Frage, wie Annese an Henry Molaisons Gehirn kam. Wer hat eigentlich die Erlaubnis erteilt, sein Gehirn zu entfernen, es durch den Mikrotom zu ziehen und online zu stellen?
    2002 ließ Suzanne Corkin verlauten, HM habe ihrer Bitte zugestimmt, sein Gehirn nach seinem Tod der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen.
Anmerkung
Sein von Rechts wegen ernannter Vormund, der entfernte Neffe, hatte mit unterschrieben. Ein Jahr später hörte Corkin, dass Annese Drittmittel für die Konstruktion eines Apparats erworben hatte, mit dem ganze Gehirne präpariert und zerschnitten werden konnten, weswegen sich gerade sein Labor für die Bearbeitung von Henrys Gehirn besonders eigne. 2006 müssen die Pläne, Henrys Gehirn zu gegebener Zeit nach San Diego überzusiedeln, festere Gestalt angenommen haben, denn im Sommer dieses Jahres reiste Annese nach Hartford, um dort mit dem Mann zu Mittag zu essen, der sein Gehirn so großzügig zur Verfügung gestellt hatte.
    Das tiefgefrorene Gehirn Henry Molaisons kurz bevor es in 2401 Scheibchen geschnitten wurde.
    Zwei Jahre später wurde Molaisons Gehirn voller Triumph in Kalifornien in Empfang genommen. Ein Kollege erzählte stolz, wie tatkräftig Annese vorgegangen war: »Jacopo

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