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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Ein paar Jahre früher hätte sich Henry wahrscheinlich ›nur‹ der Standard-Lobotomie unterziehen müssen. Ein paar Jahre später hätte man ihm Medikamente verabreicht. In beiden Fällen wäre sein Gedächtnis verschont geblieben.
Für immer dreißig
    Wie sieht ein Leben aus, das vorbei ist, aber noch nicht beendet?
    Nachdem Henry nach Hause zurückgekehrt war, wurde schnell das gesamte Ausmaß der Behinderung deutlich. Manche Menschen erkannte er nicht mehr. Einfache Arbeiten konnte er nur dann allein zu Ende bringen, wenn er nicht unterbrochen wurde. Wurde er beim Rasenmähen kurz ins Haus gerufen, blieb das restliche Gras ungemäht. Er vergaß, wo Sachen zu finden waren, auch wenn sie einen festen Platz hatten. Henry selbst war bewusst, dass etwas Gravierendes nicht stimmte. Wie auch andere Menschen mit seiner Form des Gedächtnisverlustes verglich er seinen Zustand mit den ersten paar Augenblicken, nachdem man aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht. Bei einem intakten Gedächtnis gibt es nie mehr als zwei, drei Sekunden der Desorientierung, danach flicht das Gedächtnis gleich wieder ein beruhigendes Netzwerk aus Erinnerungen und Plänen. Für Henry gab es nur die dauerhafte Verwirrung, den furchteinjagenden Beginn eines Blanko-Tages und hinter ihm eine Leere, die eine vage Unruhe verursachte: Hatte er soeben etwas getan, was sich nicht gehörte? Hatte er nicht gerade »shut up!« gesagt oder geflucht?
    1956 zog die Familie Molaison in ein Haus etwas weiter oben in derselben Straße. Ab diesem Zeitpunkt konnte er nicht mehr unbegleitet draußen herumlaufen: Er ging immer wieder zum alten Haus zurück, es gelang ihm einfach nicht, sich die neue Adresse einzuprägen. Freundschaften zu schließen war mit dieser Störung ausgeschlossen. Schon früher, als er nur an Epilepsie litt, hatte ihm der Arzt davon abgeraten, an Familienplanung zu denken, nach der Operation schien bei Henry jegliches Interesse in dieser Richtung erloschen. Zu Hause ließ er jeden ein, auch vollkommen Fremde, weil er zu höflich war, sie merken zu lassen, dass er sie nicht erkannte. Sein Zimmer verwandelte sich allmählich in eine Zeitkapsel, mit Gegenständen, Zeitschriften und Plakaten aus einer Jugend in den Vierzigerjahren.
    Bei Henrys Entlassung aus dem Krankenhaus hatte Scoville »improved«, verbessert, beim Status notiert, aber das kann sich nur auf die epileptischen Beschwerden bezogen haben. Als sich das Erinnerungsvermögen auch nach einigen Monaten noch nicht regeneriert hatte, rief Scoville den Neurochirurgen Wilder Penfield an, der am Montreal Neurological Institute viel Erfahrung mit der operativen Behandlung von Epilepsie gesammelt hatte. Empört hörte Penfield zu, was Scoville in Henrys Gehirn angerichtet hatte.
Anmerkung
Aber ihm wurde auch klar, dass sich hier vielleicht eine Schädigung instruktiver Art bei jemandem ergeben hatte, der unter keiner psychiatrischen Störung litt und dessen intellektuelle Fähigkeiten offensichtlich intakt waren. Er schickte seine Mitarbeiterin Brenda Milner nach Hartford, um sich danach zu erkundigen. Sie wurde zur ersten einer Handvoll Neurologen und Neuropsychologen, die ihre Laufbahn zu einem wichtigen Teil auf Experimente mit Henry stützten. Die Publikation Loss of recent memory after bilateral hippocampal lesions – der Zitatenklassiker Scoville & Milner (1957) – markierte den Anfang von Henrys Existenz als HM .
    Milner untersuchte ihn zum ersten Mal am 26. April 1955. Danach gefragt, antwortete HM , es sei März 1953. Sein Alter gab er mit 27 an, in Wirklichkeit war er 29. Dass er kurz vor Betreten des Raums sich noch mit einem anderen Neurologen unterhalten hatte, war ihm vollkommen entfallen. Tests seiner Intelligenz, seiner Rechenkünste und des logischen Argumentierens bestand er mit Auszeichnung. Bei Tests, die sich auf das Behalten von Geschichten bezogen, schnitt er schlecht ab: Er erinnerte sich an keinerlei Einzelheit und ebenso wenig daran, dass man ihm überhaupt eine Geschichte erzählt hatte. Milner stattete auch dem früheren Arzt DC einen Besuch ab, einem schizophrenen Patienten, der nach einem Mordversuch an seiner Frau eingewiesen worden war. Auch seine beiden Hippocampi waren in Scovilles Röhrchen verschwunden, und Milner stellte fest, dass er genau dieselbe Störung aufwies: Intelligenz und Wortschatz verschont, alles frühere medizinische Wissen noch vorhanden, aber vollständiger Gedächtnisverlust bei Ereignissen, die länger als zwei Minuten zurücklagen.

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