Das Buch des Vergessens
Krieges hatte man in der Stadt Winnenden, versteckt in einer der Windungen des Schwäbischen Waldes, fernab der Front, eine Klinik für Menschen mit Hirnverletzungen eingerichtet. Die meisten Patienten kamen geradewegs von der Front. Sie hatten sich Schusswunden zugezogen oder waren von Granatsplittern getroffen worden, häufig steckten die Kugeln oder Splitter noch im Gehirn, wenn sie in der Klinik ankamen. Einer von ihnen war ein vierundzwanzigjähriger Soldat, von dem nur sein Anfangsbuchstabe S. überliefert ist. Er war am 18. März 1944 von einer Granate getroffen worden. Laut Operationsbericht hat man fünfzigpfennig- und fünfmarksgroße Metallstücke aus seinem Hirn entfernt. Sie befanden sich auf Höhe der Ohren. Im Hinterhauptslappen steckten Knochensplitter. Beide Hirnhälften waren schwer geschädigt.
S. kam in Winnenden in die Obhut des Neurologen Joachim Bodamer. Er kannte die Umstände an der Front, er hatte als Feldarzt in Russland und Frankreich gedient. In Winnenden hatte er mit Menschen zu tun, die rekonvaleszieren sollten. Sie blieben Monate dort, manchmal Jahre. Das ermöglichte Bodamer, sie über einen langen Zeitraum zu beobachten. Die meisten Schädigungen waren irreparabel, Bodamer konzentrierte sich vor allem auf die Störungen und Behinderungen infolge der jeweiligen Hirnverletzung, die deprimierend lange Liste neurologischer Leiden, die mit einem A beginnen: Amnesie, Aphasie, Apraxie, Agnosie, Alexie, Agraphie. Zwei Jahre nach Kriegsende veröffentlichte er drei Fallbeschreibungen von Soldaten, die an einer Störung litten, welche in den neurologischen Handbüchern noch nicht vorkam: Sie hatten das Vermögen verloren, Gesichter zu erkennen.
Anmerkung
Er nannte diese Störung ›Prosopagnosie‹, vom griechischen prosopon, Gesicht, und agnosia, nicht wissen. Sein wichtigster Fall war S.
Bodamers Bericht über S. ist ein glänzendes Beispiel von Beobachtungsvermögen und Experimentieren mit begrenzten Mitteln. Von Anfang an muss ihn die Selektivität der Störung fasziniert haben. Aufmerksamkeit, Konzentration, Intelligenz, Motorik, alles funktionierte ohne nennenswertes Stocken. Auch das Gedächtnis war intakt. Dass S. Bekannte nicht am Gesicht erkennen konnte, schien nicht die Folge eines Gedächtnisdefekts. Störungen befanden sich vor allem in seinem Sehvermögen. S. gab an, »er sehe alles in Schwarz-Weiß, wie im Kino«.
Anmerkung
Obwohl er sich an Farben erinnern konnte und auch in Bunt träumte, erwachte er zu seiner großen Enttäuschung immer wieder in einer blassen, grauen Welt, und das sollte sich auch nicht mehr ändern. Gegenstände, die ihm schon vor der Verletzung vertraut waren, erkannte er, neue Gegenstände konnte er sich nicht einprägen. Auch die Integration von Einzelheiten zu einer zusammenhängenden Vorstellung verursachte Probleme. Bei der Abbildung einer Tankstelle identifizierte er zwar die ankommenden und abfahrenden Fahrzeuge, die Menschen, die Schilder, aber er verstand nicht, was die Leute dort wollten. Dokumentarfilmen konnte er nur folgen, wenn er den Kommentaren aufmerksam zuhörte. Von einem musikalisch unterlegten Film über das ländliche Leben auf einer Insel im Bodensee verstand S. nichts.
Die Symptome, die Bodamer zur Überzeugung brachten, er habe einen neuen Störungstyp entdeckt, waren kaum zu bemerken, auch nicht vom Patienten selbst. Da sich bereits schnell kompensierende Strategien und Tricks entwickelt hatten, war es S. anfangs selbst kaum bewusst, dass er Menschen nicht mehr am Gesicht erkennen konnte. Erst durch die lange Versuchsreihe, die Bodamer ihn durchlaufen ließ, wurde der volle Umfang seiner Beeinträchtigung deutlich. S. erkannte ein Gesicht durchaus als Gesicht. Es machte ihm auch keine Mühe, einzelne Elemente in einem Gesicht zu identifizieren, die Nase, die Augen, die Falten und Linien, es gelang ihm nur nicht, sie so zusammenzufügen, dass er die Unverwechselbarkeit dieses einen Gesichts erfasste. Sogar Veränderungen im Gesichtsausdruck konnte er wahrnehmen, das Problem lag darin, dass er diese nicht interpretieren konnte, es gelang ihm nicht, anzugeben, ob jemand böse schaute oder lachte. Eines Tages hatteBodamer ihn vor einen Spiegel gesetzt. S. dachte zunächst, er habe es mit einem Gemälde zu tun, verstand kurz darauf jedoch, dass es sich um einen Spiegel handelte und dass es sein eigenes Gesicht sein musste, das ihn anschaute. Er studierte es lange und aufmerksam, erkannte es aber nicht. Auch Monate später kam ihm
Weitere Kostenlose Bücher