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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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das Gesicht im Spiegel noch immer unbekannt vor. Wenn er es lange betrachtete, sagte er, schien es, als sei da eine vage Erinnerung an eine Ähnlichkeit mit seinem eigenen Gesicht. Bodamer bat ein paar Zimmergenossen, sich zusammen mit S. vor den Spiegel zu stellen. An S. erging die Bitte, zu reden und zu lachen, die anderen sollten sich still und unbeweglich halten. Selbst jetzt schaffte er es nicht, sein eigenes Gesicht zwischen dem anderer zu erkennen.
    Bei einer seiner Visiten hatte Bodamer eine Zeichnung von Dürer mitgenommen, ein Porträt eines alten Mannes mit Samtkappe und Pelzmantel. S. sah, dass es ein Gesicht war, zeigte auf Nase und Augen, konnte aber nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, alt oder jung. Bodamer erzählte ihm, es sei das Porträt eines alten Mannes mit einer Samtmütze. Ein paar Tage später nahm er die Zeichnung wiederum mit. Jetzt sagte S. sofort: »Der alte Mann mit der Samtmütze von neulich.« Bodamer fragte, woher er das wisse. S. zeigte auf die Kopfbedeckung. Das Gesicht sagte ihm nichts. Beim nächsten Besuch nahm Bodamer das Porträt zum letzten Mal mit, jetzt mit abgedeckter Mütze und Mantel. S. sagte, er habe dieses Gesicht noch nie zuvor gesehen.
Anmerkung
    Das Paradoxe an diesem Leiden war, dass bei S. die Erinnerungen an Gesichter noch intakt waren. Er konnte sich die Gesichter seiner Eltern und Geschwister gut vorstellen, aber als sie ihn besuchten, erkannte er sie nicht. Die Gesichter der Männer, mit denen er schon seit Monaten das Zimmer teilte, blieben ihm fremd. Den Saalarzt, der täglich vorbeikam, erkannte er an seiner Brille, wenn er diese absetzte, konnte S. ihn nicht mehr einordnen.
    Bodamer entdeckte, dass diese Störung auch für die Gesichter von Tieren galt. Bei einem von vorn fotografierten langhaarigen Hund sagte S.: »Ich sehe die Umrisse, es ist ein Mensch, nur die Haare sind so komisch.« Auch als Bodamer ihm erzählte, es handele sich um einen Hund, gelang es ihm noch immer nicht, einen Hunddarin zu erkennen: »Nein, ich sehe es genau so wie vorher, aber es könnte ein Hund sein, es kam mir gleich so komisch vor.«
Anmerkung
Bodamer blätterte ein ganzes Bilderbuch mit Tierköpfen mit ihm durch, S. erkannte keinen einzigen. Mit lebendigen Tieren funktionierte es nicht besser. Eines Tages hatte er auf der Straße einige Zeit vor einem großen Tier gestanden, das vor einen Wagen gespannt war. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es sich nun um einen Ochsen oder ein Pferd handelte. Erst als er das Tier von der Seite betrachtete, erkannte er, dass es ein Pferd war.
    S. wusste sich mit seiner Beeinträchtigung erstaunlich gut zu helfen. Im Alltag irrte er sich fast nie. Er nutzte einfach nur andere Hinweise als das Gesicht. Manchmal war es die Kleidung, die Brille oder die Frisur, aber meistens orientierte er sich an der Stimme oder an anderen menschlichen Geräuschen. Darin hatte er enorme Fähigkeiten entwickelt. Er hörte schon am Schritt auf dem Flur oder selbst an der Art, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde, wer eintreten würde. Aber es gab auch Zwischenfälle, die ihm schmerzlich bewusst machten, dass da etwas nicht stimmte. Während einiger freier Tage war er seiner Mutter zufällig auf der Straße begegnet, er hatte sie nicht erkannt. Als weitere unglückliche Folge notierte Bodamer, dass S.’ Unvermögen, Gesichtsausdrücke zu verstehen, auch die Mimik aus seinem eigenen Gesicht verbannt hatte. Sein Blick war starr und ausdruckslos, was die Vermutung nahelegte, die Erzeugung von Gesichtsausdrücken erfolge durch dieselbe neuronale Maschinerie wie deren Verstehen. Sogar Landschaften – S. war vor seiner Verwundung ein großer Naturfreund – hatten ihren Ausdruck verloren. Für ihn gab es keine lieblichen oder feindlichen Landschaften mehr.
    Die Prosopagnosie, argumentierte Bodamer, müsse wohl die Folge einer sehr spezifischen Schädigung sein. Er siedelte diese Verletzung in den Hinterhauptslappen an, und zwar aufgrund einiger Selbstbeobachtungen von S. Es war einige Male vorgekommen, dass die Konturen der Gegenstände in seinem Gesichtsfeld von einem Moment zum nächsten zu beben und flackern begannen. Während etwa zehn Minuten zitterte alles, was er sah. Bodamer kannte diese Symptome: Sie traten auch bei epileptischen Entladungen imHinterhauptslappen auf. Aus der Literatur wusste er, dass sie experimentell auslösbar waren, indem man die Hirnoberfläche an dieser Stelle mit einer Elektrode reizte. Das Seltsame

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