Das Buch des Vergessens
seiner Frau und wollte ihn sich aufsetzen. Sacks: »Seine Frau sah aus, als sei sie derlei gewohnt.«
Anmerkung
In einer Anmerkung schreibt Sacks, erst nach Vollendung seines Buchs habe er erfahren, dass sein Fall nicht einzigartig sei, sondern dass durchaus mehr Menschen mit dieser Störung über verschiedene Sprachgebiete hinweg beschrieben worden waren und es auch einen Namen dafür gab. Dass ein so geschulter und erfahrener Neurologe nie vom Leiden Prosopagnosie gehört hatte, zeigt, wie weit die Erinnerung an das Werk Bodamers im kollektiven Gedächtnis der Neurologie versunken war. Wer gründlich in alten Jahrgängen sucht, findet Dutzende von Fallbeschreibungen, aber die sind über die Sprachgebiete mit wenig Austausch verbreitet: Deutsche zitierten Deutsche, Franzosen nur Franzosen, ein Schweizer hier und da zitiert Deutsche und Franzosen, aber so gut wie nichts von all dem erreichte englischsprachige Wissenschaftler. Mittlerweile hat sich das geändert: Fast alle Studien erscheinen nun in englischer Sprache und der einzige deutsche Hinweis ist die obligatorische Erwähnung von ›Die Prosop-Agnosie von Bodamer‹ (1947).
Mit heutigem Wissen ist festzustellen, dass Bodamer von Anfang an richtig diagnostizierte, dass es sich beim ›Vergessen‹ von Gesichtern um die weitläufige Konsequenz eines Prozesses handelte, der schon in einem viel früheren Stadium auf Abwege geraten war. Seine Patienten vergaßen keine Gesichter, wie sie Namen oder Ereignisse vergaßen, das Problem war, dass diese Gesichter gar nicht erst in ihr Gedächtnis gelangten. Es gab nichts zu erkennen. Ebenso richtig hatte er diagnostiziert, dass der Defekt nichts mit den Augen oder den Augennerven zu tun hatte. Das Problem liegt weiter hinten im Gehirn, in den Bereichen, die visuelle Reize zu Mustern zusammenführen und danach mit dem verbinden, was im Gedächtnis an Wissen über diese Muster festgehalten ist. Die Schädigung befindet sich in den Schläfen- oder den Hinterhauptslappen. Daher ist der heute übliche Begriff ›face blind‹ oder ›Gesichtsblindheit‹ irreführend: Wir schauen mit unseren Augen, aber wir sehen mit dem Hinterkopf.
Es gibt zwei Hauptausprägungen der Prosopagnosie, die sich dadurch unterscheiden, wie schnell es bei der Weiterleitung und Verarbeitung der visuellen Reize schiefgeht. Bei der apperzeptiven Prosopagnosie hat der Patient die Fähigkeit verloren, die Elemente, aus denen sich das Gesicht zusammensetzt, richtig zusammenzufügen. Das ist ein ›früher‹ Defekt im Prozess der Gesichtserkennung. Patienten mit dieser Störung können nicht angeben, ob auf zwei Fotos dasselbe Gesicht abgebildet ist oder unterschiedliche Gesichter. Soldat S. und Leutnant A. müssen ebenso wie Dr. P. an apperzeptiver Prosopagnosie gelitten haben. Bei der assoziativen Prosopagnosie kann der Patient Gesichter nachzeichnen und Fotos von Gesichtern auf Verschiedenheit oder Gleichheit beurteilen, aber es gelingt ihm nicht, die Wahrnehmung eines bekannten Gesichts mit seinen Erinnerungen und seinem Wissen über diese Person zu verbinden. Aus seinem Gedächtnis sind die vertrauten Gesichter nicht verschwunden, sie sind nur nicht mehr aufrufbar, was für den täglichen Umgang mit Bekannten auf dasselbe hinausläuft.
Der britische Neurologe Larner hat eine frühe Beschreibung dieses letztgenannten Leidens in der Begegnung von Alice mit Goggelmoggel in Alice hinter den Spiegeln von Lewis Carroll gesehen, erschienen 1871.
Anmerkung
Nach einer schwierigen Unterhaltung mit Goggelmoggel will Alice sich verabschieden.
Also streckte sie die Hand aus und sagte in möglichst fröhlichem Ton: »Adieu! Auf baldiges Wiedersehen!«
»Ich würde dich nicht wiedererkennen, selbst wenn wir uns wiedersehen sollten«, sagte Goggelmoggel ungnädig und hielt ihr einen Finger zum Abschied hin; »dazu bist du viel zu sehr wie alle anderen.«
»Im Allgemeinen richtet man sich da nach dem Gesicht«, bemerkte Alice nachdenklich.
»Das ist es ja gerade, was ich an dir auszusetzen habe«, sagte Goggelmoggel. »Du hast ein Allerweltsgesicht – zwei Augen, so (und dabei stach er mit dem Daumen zweimal in die Luft), Nase in der Mitte, Mund quer darunter. Wenn du dagegen die Augen beide auf der gleichen Seite hättest, zum Beispiel – oder den Mund oben –, dann wäre die Sache schon etwas einfacher.«
Anmerkung
Das Augenzwinkernde an dieser Passage liegt darin, dass es ausgerechnet ein Ei ist, das sich hier über die Einförmigkeit von Gesichtern
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