Das Buch des Vergessens
war, dass bei S. die Konturen von Gesichtern zitterfrei blieben.
Einen zweiten Hinweis auf die Spezifität der Schädigung leitete er von einem unglückseligen Zwischenfall während eines Urlaubs von S. ab. Er hatte sich bei der Militärverwaltung melden müssen und war damals von einem Leutnant zurechtgewiesen worden, weil er ihn nicht so begrüßt hatte, wie es sich gehörte. S. entschuldigte sich unter Hinweis auf seine Hirnschädigung, aber damit gab sich der Offizier nicht zufrieden. Es lief auf einen Wortwechsel hinaus, bei dem sich S. sehr aufregte. Eine Viertelstunde nach dem Zwischenfall wurden die Gesichter der Menschen um ihn herum plötzlich schneeweiß. Sie verloren jegliche Form. Augen und Nasenlöcher hoben sich wie tiefschwarze Löcher gegen das Weiß ab. Alles andere, was S. sah, veränderte sich nicht.
Diese beiden Beobachtungen zusammengenommen ergaben eine doppelte Dissoziation: Die eine Funktion wurde gestört, während die andere intakt blieb, und umgekehrt – in der Neurologie das vertraute Argument für die Unabhängigkeit einer Funktion mit einem ›eigenen‹ Substrat im Gehirn.
»Karl, bist du es?«
Bodamer ergänzte seinen Artikel um zwei weitere Prosopagnosie-Patienten: Leutnant A., an der ostpreußischen Front verwundet, und den Obergefreiten B., in der Normandie von einem Granatsplitter am Hinterkopf getroffen. Auch Leutnant A. erkannte Menschen am Schritt auf dem Flur. Auch er hatte sein Gesicht im Spiegel grübelnd betrachtet, ohne es einordnen zu können. Auch er unterzog sich den Experimenten, die einem zugleich eine Ahnung vom Leben in einer Rehaklinik vermitteln. Die Oberschwester sagte, sie bezweifle ernsthaft, dass Leutnant A. wirklich keine Gesichter erkennen könne: Er grüße sie immer schon aus der Ferne. Bodamer machte die Probe aufs Exempel. Er bat die Oberschwester, sich zusammen mit einer Pflegeschwester schweigend vor den Leutnant zu stellen. Die beiden Frauen hatten vollkommen unterschiedliche Gesichter. Der Altersunterschied betrug zwanzig Jahre. A. schaute minutenlang von einer zur anderen und wieder zurück. Es gelang ihm nicht, auf die Oberschwester zu zeigen. Das Experiment endete, als sich die Pflegeschwester das Lachen nicht mehr verkneifen konnte und A. sie an ihren schönen weißen Zähnen erkannte.
Aber seine eigene Frau, fragte sich der Leutnant jetzt, die würde er doch wohl erkennen? Ein neues Experiment folgte. Bodamer bat die Ehefrau von A., eine Schwesterntracht anzuziehen, suchte ein paar Schwestern aus, die etwa so groß waren wie die Ehefrau, und stellte alle in einer Reihe vor den Leutnant. Er ging langsam an den schweigend vor sich hinblickenden Frauen entlang, studierte jedes Gesicht aufmerksam und ging an seiner Frau vorbei, ohne sie zu erkennen. Er schritt die Reihe noch einmal ab und war schon wieder an seiner Frau vorbei, als er aus dem Augenwinkel etwas in ihren Augen bemerkte, was ihm vage bekannt vorkam.
In der Literatur war Bodamer verschiedenen Patienten begegnet, die keine Gesichter erkannten, aber meist war das nicht alles. Sie konnten zudem keine Gegenstände erkennen oder hatten Gedächtnisstörungen. Eine Frau konnte ihre Tochter nicht von der Dienstbotin unterscheiden, obwohl diese einen Kopf größer war. Ihren Mann erkannte sie nur an seiner Stimme, sodass sie alle Männer im Zimmer fragen musste: »Karl, bist du es?«
Anmerkung
Das Besondere an seinen eigenen Fällen, so Bodamer, sei, dass ihre Störung fast für sich allein stand und nicht Teil eines allgemeinen Unvermögens der Mustererkennung oder des Gedächtnisverlustes war.
Der Bericht über Soldat S., Leutnant A. und den Obergefreiten B. war zugleich auch der letzte Beitrag Bodamers zur neurologischen Literatur. Neben Medizin hatte er Philosophie bei Karl Jaspers studiert, und er setzte seine Laufbahn als existenzialistisch orientierter Kulturphilosoph fort. Er schrieb ausgesprochen erfolgreiche Bücher über die Position des Menschen in einer von Technologie dominierten Gesellschaft. Joachim Bodamer starb 1985 im Alter von fünfundsiebzig Jahren.
Gesichtsblindheit
Im selben Jahr erschien Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.
Anmerkung
Oliver Sacks leitete den Titel von seinen Erlebnissen mit Dr. P. ab, Musikwissenschaftler und Dozent an einem Konservatorium. P. erkannte seine Studenten nicht mehr; erst wenn sie zu sprechen oder zu singen begannen, wusste er, wen er vor sich hatte. Am Ende der Sprechstunde griff er statt nach seinem Hut zum Kopf
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