Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
beklagt.
    Lange Zeit nahm man an, Prosopagnosie sei eine erworbene Störung, die Folge einer Hirnschädigung durch einen Unfall, einen Schlaganfall, Sauerstoffmangel oder einen Tumor, wie sich im Fall des Dr. P. herausstellte. Aber schon 1976 tauchten sporadisch Fallbeschreibungen von Menschen auf, die ohne nachweisliche Hirnschädigung an Prosopagnosie litten oder schon als Kind keine Gesichter erkannten. In den letzten zehn Jahren hat sich herausgestellt, dass es tatsächlich eine angeborene Variante gibt, die den Namen ›Entwicklungsprosopagnosie‹ bekam. Weil diese Störung von Anfang an vorhanden ist, bleibt sie oft unbemerkt, auch vom Kind selbst. Meist ist es irgendein Zwischenfall, der verdeutlicht, dass die Gesichtserkennung nicht funktioniert. Ein fünfjähriger Junge hatte einen Jungen im Kindergarten, der ihn geärgert hatte, in den Arm gebissen, war sich aber, als er von der Erzieherin zur Ordnung gerufen worden war, nicht mehr sicher, ob er auch den richtigen gebissen hatte. Ein sechsjähriges Mädchen verlor ihre Mutter in einem gut besuchten Laden aus den Augen und fragte eine Frau nach der anderen, ob sie ihre Mutter sei. In einem Übersichtsartikel aus dem Jahr 2003 wurde die Störung noch als ›ausgesprochen selten‹ bezeichnet.
Anmerkung
Mittlerweile schätzt man, dass etwa zwei Prozent der Bevölkerung so große Schwierigkeiten hat, Gesichter zu erkennen, dass von einer Störung gesprochen werden kann. Dabei hat das Internet eine entscheidende Rolle gespielt. 2001 hat die Universität von Harvard gemeinsam mit dem University College London eine Website über Prosopagnosie eingerichtet: www.faceblind.org . Dies führte zu einer unerwartet hohen Resonanz von Menschen, die in den Symptomen der Prosopagnosie ihre eigenen Beschwerden wiedererkannten. Nach Kontaktaufnahme und Untersuchung stellte sich in vielen Fällen heraus, dass noch mehr Mitglieder ihrer Familien an Prosopagnosie litten. Das Leiden war offensichtlich nicht nur angeboren, sondern schien auch einen genetischen Faktor zu haben.
Anmerkung
    Entwicklungsprosopagnosie könnte einen gewissen Aufschluss über Autismus geben. Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen, und sie betrachten sie auch auf eine abweichende Art.
Anmerkung
Dass hier von einem Zusammenhang die Rede sein kann, wird nicht bezweifelt, nur die Richtung des Zusammenhangs ist weniger eindeutig. Haben autistische Kinder Probleme, Gesichter zu erkennen, und fehlt ihnen dadurch ein wichtiges Instrument für den Sozialkontakt, sodass sich ihr Autismus verschlimmert? Oder ist umgekehrt mangelnde soziale Ausrichtung dafür verantwortlich, dass während der kritischen Phase die Gesichtserkennung unzureichend stimuliert wird und sich dadurch nicht entwickelt?
    Für jemanden, der Gesichter problemlos erkennt, ist es schwierig, sich eine Vorstellung von der Erlebenswelt eines Menschen zu machen, der das nicht kann. Gesichter wahrzunehmen ist in hohem Maße automatisiert, es verläuft unbewusst und ist so stark und schwer täuschbar, dass fast jedermann auch in den berühmten Porträts des Italieners Giuseppe Arcimboldo (ca. 1527   –1593) mühelos Gesichter erkennt, selbst wenn das Gesicht des Bibliothekars aus Büchern besteht und sich andere aus Gemüse, Obst oder Fischen zusammensetzen. Jemand mit Prosopagnosie ist bei diesen Bildern vollkommen hilflos: Er sieht nur Beeren, Äpfel und Traubenbüschel. Aber es gibt ein Gemälde von Arcimboldo, ›Porträt mit Gemüse‹, oder ›Der Gemüsegärtner‹, das auch Menschen, die keine Probleme haben, Gesichter zu erkennen, prosopagnostisches Erleben ein wenig nachempfinden lässt. Man sieht eine Schale mit Rüben, Knollen, Zwiebeln und Karottengrün. Egal, wie lange man darauf starrt, man wird das Gesicht nicht erkennen, man leidet vorübergehend an Prosopagnosie. Vorübergehend, denn das Gesicht wird sofort sichtbar, wenn man das Bild auf den Kopf dreht.

    Guiseppe Arcimboldo: Der Gemüsegärtner (ca. 1590)
    Keine Gesichter zu erkennen oder bekannte Gesichter zu ›vergessen‹ – denn das bleibt der für jeden sichtbare Teil der Störung – kann einschneidende Folgen für das Sozialleben eines Menschen haben. Prosopagnosie als Leiden ist nicht so bekannt wie Farbenblindheit oder Legasthenie, und das heißt, dass peinliche Situationen, die entstehen, häufig nicht mit einem schnellen Hinweis auf die Störung geklärt werden können. Interviews mit Patienten verdeutlichen, dass sie ihr tägliches Leben

Weitere Kostenlose Bücher