Das Buch des Vergessens
ihrem Leiden anpassen müssen.
Anmerkung
Sie laufen sonst Gefahr, sich einem guten Kollegen vorzustellen oder sich bei einer Gesellschaft zu Fremden zu gesellen, in der festen Überzeugung, es seien Bekannte. In einer Menschenmenge geraten manche in Panik bei dem Gedanken, sie könnten ihre Begleitung aus den Augen verlieren und dann nicht wieder zurückfinden. Jemand erzählt, immer Angst zu haben, das falsche Kind aus dem Kindergarten abzuholen. Ohne Gruß an einem Bekannten vorbeizugehen wird als Gleichgültigkeit oder Arroganz ausgelegt. Die meisten Menschen, die an Prosopagnosie leiden, entwickeln Tricks, um diesen Situationen aus dem Weg zu gehen. Auf der Straße versuchen sie, jeglichen Blickkontakt zu meiden. Andere begrüßen zur Sicherheit jeden mit herzlicher Überschwänglichkeit. Manchmal ist der Partner instruiert, bei Begegnungen sofort den Namen zu nennen. Viele Menschen mit Prosopagnosie gehen sozialen Situationen lieber aus dem Weg, fühlen sich unsicher und verlegen und wissen nicht, ob das zu ihrem Charakter gehört oder eine Folge ihrer Erfahrungen ist.
An dem Leiden selbst kann man nichts ändern. Es gibt keine Medizin oder Therapie. Die Empfehlungen lauten, mit den Konsequenzen umgehen zu lernen. Die Neigung vieler Menschen, ihre Störung zu verbergen, verschlimmert die Sache. Der erste Patient aus der medizinischen Literatur, 1844 beschrieben von dem Londoner Hausarzt Wigan, bekam von diesem den Rat, bei seiner Behinderung mit offenen Karten zu spielen. Er solle auf das Verständnis seiner Freunde und Familie vertrauen. Und das ist noch immer der beste Rat, den man Patienten mit dieser Störung geben kann.
Eine sanfte Böschung, gefolgt von einem steilen Abgrund
Alzheimer und Korsakow leben beide in der Erinnerung weiter, weil ihre Namen mit einer schweren Gedächtnisstörung verbunden wurden. Der Neuropathologe Alois Alzheimer (1864 –1915) ist der bekanntere der beiden. Er beschrieb 1906 eine Frau, die in seiner Heilanstalt in Frankfurt gepflegt wurde und so gut wie alles Erlebte der vergangenen Jahre vergessen hatte. Als sie starb, fand er Eiweißablagerungen in ihrem Gehirn, welche die Kommunikation zwischen Gehirnzellen behindern und so die Gedächtnisstörung verursachen. Heutzutage ist die Alzheimerkrankheit für drei Viertel aller Demenzfälle verantwortlich. Alzheimer selbst wurde mit verschiedenen Biografien geehrt.
Anmerkung
Über Korsakow ist weitaus weniger bekannt. Bis zum heutigen Tag fehlt eine Biografie, und das Wissen über das Korsakow-Syndrom beschränkt sich beim breiten Publikum häufig auf die Überzeugung, die Gedächtnisstörung werde durch Alkoholismus verursacht – was noch dazu gar nicht stimmt.
Anmerkung
Sergej Sergejewitsch Korsakow wurde 1854 in der russischen Stadt Gus-Chrustalny geboren. Nach seinem Medizinstudium spezialisierte er sich auf Neurologie und Psychiatrie und wurde schließlich medizinischer Direktor einer psychiatrischen Anstalt in Moskau. Er promovierte 1887 mit einer Studie über die geistigen und körperlichen Folgen von Alkoholismus. In den Folgejahren veröffentlichte er in russischen, aber auch in deutschen und französischen Zeitschriften Artikel zu einer ›polyneuritischen Psychose‹, wie er sie nannte. Die Polyneuritis verwies auf die mehrfachen Nervenentzündungen, die er vorgefunden hatte, die Psychose auf die akute Verwirrung und Desorientierung seiner Patienten.
Sergej Korsakow (1854 –1900)
Die Störung ging – zumindest in der Anfangsphase – mit ›Pseudoreminiszenzen‹ einher: Der Patient dachte sich alles Möglicheaus, hatte aber den Eindruck, dies alles wirklich erlebt zu haben. Konfabulieren ist noch immer eines der augenfälligsten Merkmale des Korsakow-Syndroms.
Der Nervenschaden konnte sich in Doppeltsehen äußern, unsicherem Gang, Lähmungen und geschädigten Reflexen. Aufgrund dieser somatischen Beschwerden blieb manchmal unbemerkt, dass auch ein schwerer psychischer Defekt entstanden war: der vollständige Verlust der Fähigkeit, zu behalten, was gerade geschehen war. Der Beginn der Krankheit ist häufig durch eine Krise gekennzeichnet:
»Der Kranke vermag die sich ihm aufdrängenden beunruhigenden Gedanken nicht los zu werden und erwartet etwas Fürchterliches – den Tod, irgend einen Anfall, oder er weiß selbst nicht, was; er fürchtet sich, allein zu bleiben, ruft ständig jemanden zu sich, seufzt, beklagt sein Schicksal. Von Zeit zu Zeit kommt wildes Geschrei vor, Anfälle, ähnlich den
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