Das Buch des Vergessens
länger bestehenden anterograden Amnesie.
Anmerkung
Alkohol greift Nervengewebe an und damit das Einprägungsvermögen. In der langen Alkoholgeschichte vor der akuten Phase, wie sie Korsakow definiert hat, habe das Gedächtnis vielleicht mit der Zeit immer schlechter funktioniert, sodass viele Jahre später Löcher entstanden zu sein scheinen, während in Wirklichkeit nur immer weniger gespeichert wurde. Der progressive Charakter der Hirnschädigung könne zugleich auch den Gradienten erklären. Im Gedächtnis des Alkoholikers und späteren Korsakow-Patienten wird nach und nach immer weniger geschrieben und eher nichts ausradiert.
Diese Hypothese hat Anfang der Achtzigerjahre ein Professor getestet – nicht als Forscher, sondern als Patient und Versuchsperson. Er erhielt die erfundenen Initialen P. Z.
Anmerkung
Z. war 1916 geboren worden. Obwohl er schon ab seinem dreißigsten Lebensjahr massiv trank, war es ihm gelungen, eine führende Position auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu erobern. Er verfasste Hunderte von wissenschaftlichen Artikeln und diverse Standardwerke, saß in Redaktionen wichtiger Zeitschriften, organisierte Kongresse, lehrte, begleitete Dissertationen und hielt Lesungen auf der ganzen Welt. 1979 veröffentlichte er seine Autobiografie. Zwei Jahre später, mittlerweile fünfundsechzig, verursachte eine Krise einen akuten Gedächtnisverlust, und die Diagnose lautete Korsakow-Syndrom. Er stellte sich der Gedächtnisforschung zur Verfügung.
Fast überflüssigerweise stellte man zunächst fest, dass Z. an anterograder Amnesie litt. Listen mit Wortpaaren wie ›Genick und Salz‹ oder Kombinationen aus Zahlen und geometrischen Figuren konnte er nicht behalten. Doch ein Test zur retrograden Amnesie – die berühmten Gesichter – wies ebenso auf schwere Schäden hin, auch wenn aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren das eine oder andere verschont geblieben war. Die prominente Position Z.s in seinem Spezialfach und seine Autobiografie ermöglichten den Forschern, einen ganz persönlichen Test zu entwerfen. Sie erstellten eine Liste mit 75 ›berühmten Wissenschaftlern‹. Die Namen stammten zum größten Teil aus seiner Autobiografie: Direkte Kollegen, Mitredakteure, Koautoren und andere, von denen man wusste, dass Z. sie einmal gut gekannt hatte. Diese Liste wurde in drei Rubriken eingeteilt: Menschen, die ihre jeweils wichtigsten Beiträge vor, um oder nach 1965 erbracht hatten. Z. wurde gebeten, zu jedem Namen anzugeben, welches Spezialgebiet die betreffende Person hatte und welches die wichtigsten Beiträge waren, die sie beigesteuert hatte. Die Antworten wurden als 0, 1 oder 2 gewertet. Z. bekam eine 1, wenn er zum Beispiel das Spezialgebiet des entsprechenden Kollegen wusste, sich aber nicht mehr daran erinnern konnte, was er dazu beigetragen hatte. Ein Kollege von Z. – gleich alt und gleich angesehen in seinem Fach, aber ohne alkoholische Vergangenheit – war bereit, sich zum Vergleich demselben Test zuunterziehen. Die Ergebnisse sind schnell berichtet. Obwohl es sich um seine ›eigenen‹ berühmten Kollegen handelte, konnte Z. bedeutend weniger über sie erzählen als der Kontrollprofessor. Namen, zu denen ihm gar nichts einfiel, befanden sich vor allem in dem Teil ›nach 1965‹, aber auch bei einem ziemlich großen Teil ›vor 1965‹ hatte er viel vergessen. Das Rätselhafte ist, dass er über dieselben Menschen noch ein paar Jahre vor dem akuten Korsakow 1981 alles Mögliche in seiner Autobiografie berichten konnte.
Aus derselben Autobiografie stellte man im Folgenden einen Test zusammen, in dem es um Erlebnisse mit Familienmitgliedern, Ereignisse während Kongressen, bemerkenswerte Forschungsberichte oder Bücher ging. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick zu erkennen. Mit zunehmender Zeit – Lebensalter – nimmt der Prozentsatz richtiger Antworten schnell ab. Selbst wenn es die Erinnerungen aus der relativ verschonten Periode bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr betrifft, kommt er nicht über 70 Prozent. Der Wendepunkt liegt zwischen 1940 und 1950, als Z. zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig ist und die massive Trinkerei begonnen hat: Er kann nur noch auf etwas mehr als 40 Prozent der Fragen die richtige Antwort geben. Die Talsohle der Grafik ist 1960 erreicht: Über die zwanzig Jahre zwischen seinem fünfundvierzigsten und fünfundsechzigsten Lebensjahr weiß er nichts mehr. Noch einmal: Die Fragen stammten allesamt aus dem, was Z. wenige Jahre vor der Krise
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