Das Buch des Vergessens

hysterischen, in denen der Patient sehr launisch ist, auf die Umgebung schimpft, nach den Personen in seiner Nähe wirft, sich an die Brust schlägt und dergleichen mehr. Besonders hochgradig pflegt die Unruhe nachts zu sein: die Kranken schlafen gewöhnlich fast gar nicht und lassen auch Andere nicht schlafen, rufen sie beständig zu sich, verlangen, man solle bei ihnen sitzen, sie umdrehen, sich mit ihnen beschäftigen, etc.«
Anmerkung
    Wenn sich die Erregung gelegt hatte, bekamen die Patienten sich wieder in den Griff. Sie konnten ihre Gedanken sammeln, und nach einiger Zeit gerieten sie in einen Zustand gelassener Gleichgültigkeit. Manchmal hatten sie das Gefühl, alles sei in bester Ordnung. Aber ihr Gedächtnis stellte sich nicht wieder her: Anscheinend war nichts von alledem, was sie nach der Krise erlebt hatten, gespeichert worden.

Ungeschälter Reis
    Korsakow wies darauf hin, dass der schwedische Arzt Magnus Huss – er führte 1849 den Begriff ›Alkoholismus‹ ein – schon früher einen Zusammenhang zwischen langfristigem Alkoholmissbrauch und Gedächtnisstörungen aufgezeigt hatte. Aber seiner eigenen Untersuchung zufolge konnte dieselbe Störung auch ohne Alkoholismus entstehen. Korsakow berichtete von Fällen, bei denen der Schaden durch Typhus, Tuberkulose oder Wochenbettfieber entstanden war oder infolge von Vergiftungen durch Arsen, Kohlenmonoxid, Blei oder verdorbenem Getreide. Die Ursache musste ein Stoff sein, der ins Blut gelangt war und die Nerven vergiftete. Als Korsakow 1897 einen großen Medizinkongress organisierte, schlug sein Berliner Kollege Friedrich Jolly vor, das Syndrom nach ihm zu benennen. Die Störung wurde auf den Schaden am Gedächtnis eingegrenzt. Die Ursache ließ man vorläufig offen, auch wenn sich alle Ärzte darüber einig waren, dass diese in einer bis dahin noch nicht nachzuweisenden Infektion gesucht werden muss.
    Bei der Entdeckung der Ursache des Syndroms handelt es sich um einen klassischen Fall von Serendipität, auch Glücksfund genannt. 1890 entstand Unruhe in Niederländisch-Indien, weil immer mehr Menschen, Inländer und Niederländer, an Beriberi erkrankten. Beriberi geht mit vergleichbaren Schäden des Nervensystems einher wie Korsakows Polyneuritis und führt zu denselben Störungen bei Sinneswahrnehmungen und zu einer Schwächung der Muskelkraft. Als das Ausmaß der Krankheit drohte, die Kampfkraft der niederländischen Armee zu schwächen, beschloss man, ein Labor unter Leitung des Medizinoffiziers Christiaan Eijkman in Batavia einzurichten.
Anmerkung
Eijkman hatte bemerkt, dass Hühner, die als Versuchstiere gehalten wurden, allesamt Beriberi bekamen, sich jedoch nach einiger Zeit wieder erholt hatten. Es stellte sich heraus, dass ein neu angestellter Koch es für Verschwendung gehalten hatte, die erkrankten Hühner mit gekochtem weißem Reis zu füttern, und ihnen stattdessen ungeschälten inländischen Reis gegeben hatte. Nach weiteren Versuchen Eijkmans wurde klar, dass die Hühner nicht an etwas erkrankten, was sich in dem weißen Reis befand, sondern daran,was diesem Reis fehlte: Ein Stoff, der offensichtlich zugleich mit dem weggemahlenen Silberhäutchen verschwunden war. Beriberi erwies sich nicht als Infektion, sondern als eine Mangelkrankheit. Nach Kontrollversuchen – diesmal mit javanischen Gefangenen – waren auch die medizinischen Autoritäten überzeugt. 1911 gelang es dem polnischen Physiologen Funk, den Stoff zu isolieren, der Polyneuritis bei Vögeln heilte. 1936 wurde Thiamin synthetisiert, heute besser bekannt als Vitamin B 1 .
    Sergej Korsakow hat diese Entwicklungen nicht mehr erlebt. Er starb kaum sechsundvierzigjährig im Jahr 1900 an Herzversagen. Auf den Zusammenhang zwischen Beriberi und ›seinem‹ Syndrom hatte er selbst auch schon verwiesen. Die wirkliche Ursache für das Korsakow-Syndrom war ein dauerhafter Mangel an Vitamin B 1 . Häufig entsteht dieser durch Alkoholismus, wenn auch nicht unbedingt durch den Alkohol selbst, sondern durch die Vernachlässigung des normalen Nahrungsmusters. Fehlt Vitamin B 1 länger als sechs, sieben Wochen in der Nahrung, kann dies schon schwere Gedächtnisprobleme verursachen. Aber derselbe Mangel kann durch ganz andere Ursachen entstehen: Es gibt auch korsakowartige Symptome, die nach einer Magenverkleinerung beschrieben wurden, nach Anorexia, einem Hungerstreik oder einer Erkrankung des Verdauungstrakts. In all diesen Fällen wird so schnell wie möglich ein Vitamin B 1 – Präparat