Das Buch des Vergessens
seltsamen Form des Vergessens zu werden, die ›Kryptomnesie‹ genannt wird: etwas von einem anderen lesen oder hören, anschließend auf genau dieselbe Idee kommen, inzwischen aber vergessen haben, dass sie von einem anderen stammt.
Kryptomnesie, wörtlich ›vergessene Erinnerung‹, kommt recht häufig vor. Jemand kann zum Beispiel fest davon überzeugt sein, selbst eine Lösung erdacht zu haben, die in Wirklichkeit jedoch während einer früheren Versammlung bereits von einem anderen vorgeschlagen worden war. Kryptomnesie wurde auch als Erklärung für die Publikmachung einer ›neuen‹ Operationstechnik in einer Zeitschrift für plastische Chirurgie suggeriert – einer Technik, die schon seit Jahren Teil der Lehre in der Chirurgie war.
Anmerkung
Beispiele für Kryptomnesie aus anderen Bereichen sind ein ›neuer‹ Cocktail, ein Rezept oder eine Übung für ein Basketballtraining.
Anmerkung
Unter Kollegen können dank der Neigung mancher Menschen, ab und zu auf anderer Leute Ideen zu kommen, erbitterte Konflikte entstehen.
Den berühmtesten Fall von Kryptomnesie kann George Harrison für sich verbuchen. 1969 schrieb er ›My sweet Lord‹, das weltweit zum Nummer-eins-Hit wurde. Daraufhin wurde er von der Musikfirma der Chiffons vor Gericht geladen, die 1963 mit ›He’s so fine‹ einen Hit gelandet hatten. Die Anklage lautete auf Plagiat: Die Melodie war fast identisch. Harrison gab zu, den Titel der Chiffons zu kennen, bestritt jedoch, ihn abgeschrieben zu haben. Der Richter, der vielleicht mit der Psychoanalyse liebäugelte, kam zu einem dergestalt formulierten Urteil, dass Harrisons Gefühle geschont wurden: Hier müsse von einem unabsichtlichen Kopieren dessen die Rede sein, was sich in Harrisons unterbewusstem Gedächtnis befunden habe.
Anmerkung
Aber unabsichtlich oder nicht, es war und blieb Kopieren: Harrison wurde dazu verurteilt, rund eine halbe Million Dollar an Tantiemen zu überweisen. Um das ganze Theater zu beenden, kaufte er später die Rechte von ›He’s so fine‹ einfach selbst auf. Wer die Nummer auf Youtube anklickt, kann die Strophen tatsächlich auf den Text von ›My sweet Lord‹ mitsingen.
In der psychologischen Literatur der letzten zwanzig Jahre wurde Kryptomnesie dem ›unbewussten Plagiat‹ gleichgestellt. Das ist nicht gerechtfertigt. Unbewusstes Plagiat kann eine Folge von Kryptomnesie sein, ist aber nicht damit identisch. Und es wird der reichen Geschichte des Begriffs Kryptomnesie auch nicht gerecht.
Subliminale Erinnerung
Um 1900 war man für eine seltsame Sammlung von Beobachtungen und Befunden auf der Suche nach einer Erklärung und einer Bezeichnung. Die meisten Beobachtungen waren während spiritistischer Séancen und am Krankenbett zusammengetragen worden. Im Dezember 1894 hatte der Genfer Psychologieprofessor Théodore Flournoy das Medium Hélène Smith kennengelernt, eine Verkäuferin in einem Laden für Seidenstoffe. Er nahm an etlichen Séancen teil, um herauszufinden, ob die Botschaften, die sie übermittelte, einen paranormalen Ursprung hatten. In Trance erzählte die Frau von einem Aufenthalt auf dem Mars, sie sprach Sanskrit und unterhielt sich auf Altfranzösisch mit Menschen am Hof Marie-Antoinettes. In manchen Séancen gab sie an, wo verlorene Gegenstände wiedergefunden werden konnten. 1900 veröffentlichte Flournoy den Bericht seiner Befunde.
Anmerkung
Er führte zu einem sofortigen Abbruch der herzlichen Beziehungen zwischen ihm und Smith.
Flournoy war zunächst davon überzeugt, alle Äußerungen des Mediums seien schlussendlich durch psychologische Prozesse zuerklären, solange man davon ausging, dass nicht alle Prozesse der Person selbst bewusst zugänglich waren. Smith handelte in absolut gutem Glauben, doch alles, was sie übermittelte, entsprang ihrem eigenen Geist. Eines Tages hatte sie eine Brosche verloren. Sie war ein geliebtes Andenken, und Smith veröffentlichte eine Anzeige unter der Rubrik Verlorenes. Keine Reaktion. Zehn Tage später erhält sie während einer Séance ausgesprochen genaue Anweisungen, wo die Brosche liegen soll: einen Meter westlich von einem weißen Stein am Weg zur Rue des Bains. Die ganze Gesellschaft erhebt sich, nimmt eine Laterne und findet die Brosche beim weißen Stein. Für Flournoy war dies ein Fall von ›Kryptomnesie‹ – hier taucht dieser Begriff zum ersten Mal in der Literatur auf.
Anmerkung
Smith muss unbewusst doch gemerkt haben, dass die Brosche fiel, aber die Erinnerung daran konnte nur
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