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Das Buch des Vergessens

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Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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noch selbst dem Papier anvertraut hatte.
    Gedächtnisverlust bei Prof.   P.   Z. zur Information seiner Autobiografie entnommen
    Die Vorstellung, bei einem Korsakow-Patienten sei zwar das autobiografische Gedächtnis schwer beschädigt, aber sein Fachwissen, gespeichert im semantischen Gedächtnis, werde größtenteils verschont, führte zum dritten und vielleicht schmerzlichsten Experiment mit Z.: Seinen eigenen wissenschaftlichen Artikeln und Büchern wurden fünfunddreißig Begriffe entnommen. An Z. erging die Bitte, sie zu definieren und möglichst viele Beispiele und Details anzuführen. Die Kontrollversuchsperson legte denselben Test ab. Auch jetzt lautete das traurige Ergebnis, dass Z. viele der ihm einst so vertrauten Begriffe nun nichts mehr sagten.
    Die Untersuchung von Z. hat einige allzu schlichte Zweiteilungen relativiert. Sein Einprägungsvermögen funktionierte insgesamt nicht mehr, aber auch der Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit war sehr erschwert. Und obwohl sein semantisches Gedächtnis besser funktionierte als sein autobiografisches, war auch daraus viel verschwunden. Bei einer mündlichen Prüfung über sein eigenes Werk – denn darauf lief das letzte Experiment ja hinaus – wäre er durchgefallen. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich bei retrograder Amnesie um eine verkappte Form von anterograder Amnesie handelt, die Folge eines im Laufe des Lebens immer schlechter funktionierenden Gedächtnisses eines Alkoholikers. Es war zwar von einem Zeitgradienten die Rede, aber wenige Jahre vor der Diagnose waren die meisten Erinnerungen noch zugänglich. Kaum war der kritische Punkt der akuten Krise vorbei, sind in diesem Gedächtnis viele Türen gleichzeitig ins Schloss gefallen. Deshalb ist es so tückisch, sich dem Korsakow-Syndrom zu nähern. Es beginnt als sanfte Böschung, gefolgt von einem steilen Abgrund.
Der Claparède-Effekt
    Dank der Konzentration auf diese eine Versuchsperson kommen die Experimente mit Z. den Fallstudien sehr nahe, die Korsakow ein Jahrhundert zuvor veröffentlicht hatte. Auch er versuchte das Behalten und Vergessen zu präzisieren, indem er sich intensiv mitden Lebenserfahrungen seiner Patienten befasste, und kam dabei zu Beobachtungen, die genau wie die Experimente mit Z. bequeme Zweiteilungen differenziert haben. Nichts ist in absolutem Sinn in diesen angeschlagenen Gedächtnissen schadhaft geworden, schlussfolgerte Korsakow, nicht einmal das so schwer und auf den ersten Blick irreparabel beschädigte Einprägungsvermögen. Wenn er zu einem Patienten kam und fragte, wer er sei, antwortete der Patient, er habe keine Ahnung. Aber wenn er nach wenigen Minuten vom Flur erneut in das Zimmer kam, wurde Korsakow nicht begrüßt, als betrete ein vollkommen Fremder den Raum. Nach mehreren Besuchen brauchte er auch nicht mehr zu erklären, dass er Arzt sei, auch wenn der Patient nach wie vor behauptete, Korsakow noch nie zuvor begegnet zu sein. Offensichtlich war doch etwas gespeichert worden, wenn auch vielleicht in einem dem Patienten nicht bewusst zugänglichen Teil seines Gedächtnisses. Beobachtungen wie diese werden auch von anderer Seite bestätigt. In einer psychiatrischen Anstalt in Genf, dem Asile Bel-Air, hatte der Neurologe Édouard Claparède versucht, einen experimentellen Beweis für dieses ›unbewusste‹ Gedächtnis zu liefern. Eine siebenundvierzigjährige Korsakow-Patientin, aufgenommen im Jahr 1900, verfügte noch über einen großen Teil ihres früheren Wissens, wie die Namen aller Hauptstädte Europas, litt aber an schwerer anterograder Amnesie. Die Schwester, die sie täglich versorgte, blieb eine Fremde für sie (»Madame, mit wem habe ich die Ehre?«), genau wie die Ärzte, mit denen sie jahrelang zu tun hatte.
Anmerkung
Claparède war fasziniert von dem Kontrast zwischen dem, was sie behauptete, nicht zu wissen, und dem, was sie dennoch wissen musste: Jener unbekannten Schwester stellte sie nämlich Fragen, die man einer Krankenschwester stellt, sie konnte nicht angeben, wo sich die Toilette befand, ging aber ohne Zögern dorthin, sie sagte, sie erkenne die Flure und Säle der Anstalt nicht, fand sich dort aber mühelos zurecht. Bei einer seiner täglichen Visiten versteckte Claparède eine Reißzwecke in seiner Hand. Die Frau pikste sich beim Händeschütteln, hatte den Zwischenfall jedoch schnell wieder vergessen. Am nächsten Morgen streckte der Arzt erneut seine Hand aus, ohne Reißzwecke, aber nun zog die Frau ihre Hand in einem Reflex

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