Das Buch des Vergessens
hastigzurück. Auf seine Frage, weshalb sie sich weigere, ihm die Hand zu geben, sagte sie bestürzt: »Aber man hat doch sicherlich das Recht, den Händedruck zu verweigern?« Als Claparède nachbohrte, fragte sie: »Haben Sie vielleicht eine Reißzwecke in Ihrer Hand versteckt?« »Aber Madame, weshalb glauben Sie denn, dass ich Sie piksen will?« »Das war nur so eine Idee, die mir gerade in den Kopf kam. Wissen Sie, manchmal verbergen sich nämlich Reißzwecken in Händen.«
Anmerkung
Zu keinem Zeitpunkt erkannte sie diese Idee als eine Erinnerung.
Dass Erfahrung, die zwar gespeichert wird, aber nicht bewusst zugänglich ist, manchmal auch weiterhin Einfluss auf das Denken und Erleben hat, wurde später als Claparède-Effekt bezeichnet. Mittlerweile ist er Bestandteil der Theoriebildung über ein Phänomen, das seit 1985 als ›implizites Gedächtnis‹ bekannt ist.
Anmerkung
Genau wie sich ein halbes Jahrhundert nach Claparède bei Henry M. herausstellte, kann jemand an schwerer anterograder Amnesie leiden und sich dennoch bestimmte Fähigkeiten aneignen, in seinem Fall das Spiegelzeichnen, oder unbewusst Wissen über Personen oder Orte erwerben. Auch bei retrograder Amnesie kann offensichtlich mehr verschont sein, als dem Patienten zugänglich ist, wie sich im Falle eines Polizisten mit sehr schwerem Gedächtnisverlust infolge einer Hirnhautentzündung zeigte.
Anmerkung
Er hatte das Ziel seiner Hochzeitsreise vergessen, die Geburt seiner drei Kinder, seine Karriere, die Häuser, in denen er gewohnt hatte, seine Freunde. Von seiner Zeit bei der Armee wusste er nur noch, dass er in Ägypten stationiert gewesen war – was er dort getan oder erlebt hatte, war weg. Die Infektion hatte so gut wie alles gelöscht. Der Claparède-Effekt trat bei dem Versuch auf, ihn einem MRT – Scan zu unterziehen. Die Prozedur musste abgebrochen werden, weil er einen Panikanfall bekam. In die Röhre geschoben zu werden, sagte er, sei, als beträte er die Pyramiden.
Anmerkung
Zu Korsakows Zeiten gab es die Begriffe autobiografisches oder semantisches Gedächtnis, Claparède-Effekt oder implizites Gedächtnis noch nicht. Aber Befunde wie bei der Genfer Dame, Henry M. oder dem britischen Polizisten hätten ihn in seiner Überzeugung bestärkt: Sogar im schwerstbeschädigten Gedächtnis bleibt noch etwas verschont, Unvergessliches, das keiner Erinnerung zugänglich ist.
Ihr Kollege hat eine glänzende Idee – die Ihre
In Reise um den Mond von Jules Verne, erschienen im Jahr 1870, lassen sich drei Herren in einer Kapsel zum Mond schießen.
Anmerkung
Sie werden von der größten Kanone abgefeuert, die jemals gebaut wurde. Es ist nicht ungemütlich an Bord: Es gibt Diwane, Gaslicht verbreitet sich über die gepolsterten Wände, der Branntweinvorrat reicht für Monate. Auch zwei Jagdhunde reisen mit, vielleicht können sie ihnen auf dem Mond noch nützlich sein. Leider hat sich Trabant, einer der beiden Hunde, beim Abschuss schmerzhaft den Kopf gestoßen, er ist seither ein wenig schlapp. Am nächsten Morgen liegt er tot auf dem Boden. Traurig. Aber was sollen sie mit dem Kadaver machen? Man kann nicht einfach so ein Bullauge öffnen, um den Hund von Bord zu schaffen: Aus der Kapsel darf keine Luft entweichen. Aber drinnen behalten können sie ihn auch nicht. Sie beschließen, das Risiko doch einzugehen: Zwei der Herren halten ganz kurz eine Luke im Boden auf, und der dritte lässt den Hund in sein unermessliches Seemannsgrab fallen.
Mit dem, was danach geschieht, hat niemand gerechnet. Ein paar Tage später schaut einer der Männer aus dem Fenster und sieht zu seinem Schrecken den Hund. Sie hatten vergessen, dass alles, was man im Weltraum über Bord wirft, einfach immer weiter mit herumkreist. Zu den unpassendsten Momenten schwebt der tote Hund am Bullauge vorbei.
So wie dieser Hund sind auch manche M enschen.
Man wirft sie aus seinem Leben. Man hofft, sie nie wieder zu sehen. Man will nichts mehr mit ihnen zu tun haben, und dennoch tauchen sie immer wieder im eigenen Leben auf, sie wollen nie wirklich verschwinden.
»Trabant wurde begraben«
Schon oft war ich drauf und dran gewesen, diese Metapher in einem Artikel zu verarbeiten, doch ich konnte mich nie von dem beunruhigenden Gefühl befreien, sie schon einmal irgendwo gelesenzu haben. Eine Quelle hab ich nie finden können.
Anmerkung
Aber ich will kein Plagiat begehen, auch nicht aus Versehen. Durch die Verwendung dieser Metapher würde ich Gefahr laufen, Opfer einer
Weitere Kostenlose Bücher