Das Buch des Vergessens
verordnet.
Doppelter Gedächtnisverlust
Streng genommen leidet ein Korsakow-Patient an zwei Formen von Gedächtnisverlust. Der Unterschied liegt in der Zeitrichtung. Bei ›anterograder Amnesie‹ gelingt es dem Patienten nicht mehr, sich neue Informationen einzuprägen. Der Gedächtnisverlust ist vorwärtsgerichtet: Was der Patient auch noch erleben wird, es gelangt nicht mehr in sein Gedächtnis. Bei ›retrograder Amnesie‹ ist die Vergangenheit des Patienten in Mitleidenschaft gezogen, bei ihm sind die Erinnerungen an alles, was er schon erlebt hat, verschwunden. Die Trennlinie ist immer der Moment, in dem der Schadenentstanden ist: Im Vergessen versinkt jeweils, was ihm vorausging oder folgt.
Oder beides. Reine Formen anterograder oder retrograder Amnesie sind selten. Bei den meisten Schäden oder Krankheiten entstehen dauerhafte oder vorübergehende Mischformen. Depressive Patienten, die schweren doppelseitigen Elektroschocks unterzogen werden, haben häufig Einprägungsprobleme, können aber auch einen Teil ihrer Vergangenheit verlieren, manchmal bis zu drei, vier Jahre zurückliegend. Gedächtnisstörungen infolge von Hirnschäden gehen ebenfalls häufig in beide Zeitrichtungen. Aber abgesehen von Demenzerkrankten besteht die weitaus größte Patientenkategorie mit der kombinierten Gedächtnisverlustform aus Menschen mit dem Korsakow-Syndrom. Im täglichen Umgang mit ihnen fällt die anterograde Amnesie stärker auf. Den Patienten gelingt es nicht mehr, das gerade Erlebte, Gesagte oder Getane so zu speichern, dass sie es später wieder abrufen können, selbst wenn dieses Später nur wenige Minuten umfasst. Das führt dazu, dass sie immer wieder die gleiche Geschichte erzählen, endlos dieselbe Frage wiederholen, jemanden nicht erkennen, wenn derjenige ein paar Minuten weggewesen ist. Erinnerungen an eine weiter entfernte Vergangenheit scheinen häufig noch intakt. Was sie in der Schule gelernt haben, Fachwissen, Erlebnisse als Heranwachsende – alles scheint noch vorhanden zu sein, es sind Erinnerungen, die langen Geschichten als Grundlage dienen, häufig wortwörtlich wiederholt, die den Eindruck erwecken können, das Gedächtnisproblem beschränke sich auf den Zeitraum nach der Entstehung des Korsakow-Syndroms.
Der tägliche Umgang mit Menschen, die an dieser Gedächtnisstörung leiden, wird nicht nur von endloser Wiederholung belastet. Korsakow selbst hatte eine Sechsundvierzigjährige in Behandlung, die nach einer überwundenen Typhuserkrankung eine schwere Gedächtnisstörung aufwies. Sie war nicht nur vergesslich geworden, auch ihre Erinnerungen an eine etwas weiter entfernte Vergangenheit waren in Mitleidenschaft gezogen. In ihrem Geist, schrieb Korsakow, herrsche eine gewisse Leere.
Anmerkung
Im zweiten Jahr ihrer Krankheit schien sich diese Leere wieder zu füllen, leider nichtmit Erinnerungen, sondern mit ›Pseudoreminiszenzen‹. Sie war zur Auffassung gelangt, ihr Mann bandele ab und zu mit Frauen aus der Stadt an. Ihr Ehemann, laut Korsakow ein angesehener Arzt im fortgeschrittenen Alter, gab ihr keinerlei Anlass dazu, doch die Frau ließ sich ihren Verdacht nicht ausreden. Aus Einzelheiten dessen, was sie ihm vorhielt, schloss ihr Mann, dass Geschichten, die er ihr einst über den Lebenswandel eines ihm bekannten Junggesellen erzählt hatte, sich jetzt bei ihr in ›Erinnerungen‹ an das Verhalten ihres eigenen Mannes verwandelt hatten. Einige Zeit später ›erinnerte‹ sie sich noch an andere Fälle, in denen ihr Mann sie betrogen habe, allesamt auf Szenen in Romanen zurückzuführen, die sie einst gelesen hatte. Das brachte ihren Mann in eine missliche Lage, allein schon deswegen, weil die Frau ansonsten geistig vollkommen in Ordnung war. Das Problem lag darin, dass seine Frau Gedanken, die in ihr aufstiegen, nicht mehr mit der richtigen Quelle verbinden konnte. Sie stand dem, was da aus ihrem Gedächtnis zum Vorschein kam, hilflos gegenüber.
Experimentelle Erforschung des Gedächtnisses von Menschen mit Korsakow-Syndrom ist mit gewissen Komplikationen verbunden. Meist entsteht Korsakow nach langfristigem Alkoholmissbrauch. Das bedeutet, dass man zu einer experimentellen Gruppe von Alkoholikern mit Korsakow eine Kontrollgruppe von Alkoholikern ohne Korsakow suchen muss. Davon gibt es eine ganze Menge, aber es ist nicht leicht, sie zur Teilnahme an Gedächtnisexperimenten zu bewegen. Ein weiteres Problem liegt darin, dass Forscher nur einen eingeschränkten Einblick in das haben, was
Weitere Kostenlose Bücher