Das Buch des Vergessens
der Patient einst gewusst hat. Man kann versuchen, in Experimenten Tiefe und Umfang des Vergessens auszuloten, aber dann muss zugleich auch ein gewisses Maß an Sicherheit vorhanden sein, dass sich das Vergessene vor der Korsakow-Erkrankung auch tatsächlich im Gedächtnis befunden hatte. Viele Studien werden mithilfe von Tests durchgeführt, bei denen man Fotos von Menschen zeigt, die in den Fünfziger-, Sechziger- oder Siebzigerjahren berühmt waren, aber niemand weiß, ob die Erinnerungen der Versuchspersonen – etwa an einen berühmten Schauspieler – aus den Fünfzigerjahren stammt, in denen die Filme erschienen, oder aus den Siebzigern, als sie vielleichtwiederholt wurden. Und überhaupt – nicht erkennen heißt noch nicht vergessen: Vielleicht ging die Versuchsperson nur nicht so oft ins Kino. Studien zur anterograden Amnesie sind methodologisch viel einfacher. Dabei bietet der Versuchsleiter das zu behaltende Material selbst an – eine Wörterliste, Fotos, eine Geschichte – und überprüft anschließend, was davon hängen geblieben ist. Und auch, wenn das meist nicht viel ist, bietet es die Möglichkeit, zu untersuchen, ob das Einprägungsvermögen für verschiedene Arten von Information ebenso schwer gestört ist. Ein Hauptgesetz aus der Psychologie trifft auch hier zu: Die Menge der Untersuchungen steht in unmittelbarer Ableitung zu ihrer experimentellen Zugänglichkeit. Studien zur retrograden Amnesie sind im Vergleich zur Flut der Experimente zur anterograden Amnesie fast zu vernachlässigen.
Aber sie fehlen nicht ganz. Außer nach den berühmten Gesichtern kann man auch nach wichtigen öffentlichen Ereignissen fragen, nach Fernsehprogrammen oder dem Erkennen von Stimmen. Die Ergebnisse zeigen, dass Korsakow-Patienten ›alte‹ Erinnerungen besser reproduzieren als neuere, aber dabei noch immer deutlich schlechter abschneiden als die Kontrollgruppe. Der manchmal entstehende Eindruck, die frühe Vergangenheit sei bei ihnen noch vollständig intakt, scheint die Folge eines Kontrasteffekts: In Wirklichkeit ist auch davon vieles verschwunden.
Ein zweites Ergebnis zeigt, dass Vergessen einem Zeitgradienten unterliegt: je neuer, desto mehr Schwund. Sogar wenn sich der Zeitraum, aus dem viel vergessen wurde, über dreißig Jahre in die Vergangenheit erstreckt, ist noch ein Unterschied zwischen Erinnerungen an Ereignisse aufzuweisen, die dreißig Jahre her sind, und denjenigen, die erst zehn Jahre zurückliegen. Korsakow-Patienten erkennen einen Schauspieler zwar anhand früher Fotos aus seiner Karriere, aber nicht mehr auf späteren oder können eine mäßig berühmte Persönlichkeit von vor vierzig Jahren besser einordnen als eine, die vor zehn Jahren sehr berühmt war.
Anmerkung
Dieser Gradient bedeutet auch, dass man nicht von einem ›Loch‹ im Gedächtnis sprechen kann, höchstens von immer mehr Löchern, je näher man der Gegenwart kommt.
Die Vergessenskurve von Prof. P. Z.
Über den Thiaminmangel als Ursache der Gedächtnisstörungen von Korsakow-Patienten herrscht Einigkeit. Enzyme, die für den Stoffwechsel von Hirnzellen lebenswichtig sind, Zellmembrane intakt halten und eine schützende Myelinscheide um die Ausläufer von Nervenzellen bilden, sind ihrerseits von Thiamin abhängig. Das Gehirn nimmt fast so viel Thiamin auf, wie angeboten wird, was bedeutet, dass aussetzende Lieferung schon bald zu Problemen führt: Reize werden schlechter weitergeleitet, Zellgewebe beginnt zu verkümmern, manche Gehirnstrukturen schrumpfen messbar. MRT – Aufnahmen zeigen, dass der Hippocampus etwa zehn Prozent kleiner werden kann. Zugleich herrscht noch viel Unklarheit. Dieselben Gehirnabweichungen können auch bei Alkoholikern ohne Gedächtnisprobleme auftreten. Die Beziehung zu einem geschrumpften Hippocampus ist ebenso wenig eindeutig. Der Hippocampus ist an der Speicherung von Erinnerungen beteiligt, und Schäden an diesem Organ könnten die anterograde Amnesie bei Korsakow-Patienten erklären. Aber für die Reproduktion früher Erinnerungen ist ein intakter Hippocampus nicht notwendig: Bei Henry M. war der Hippocampus zum größten Teil entfernt worden, doch er konnte durchaus noch Jugenderinnerungen aufrufen.
Weshalb Erinnerungen jedoch mehr Schäden aufweisen, je jünger sie sind, ist eines der Rätsel, das durch die neurophysiologische Theorie heraufbeschworen wird. Eine der Hypothesen suggerierte, was sich jetzt als retrograde Amnesie präsentiere, sei in Wirklichkeit die Folge einer schon
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