Das Buch des Vergessens
wurden und dadurch als scheinbar neue Kreationen auftreten, ohne die Eigenschaften einer Erinnerung«.
Anmerkung
Außer dem Vergessen gab es nun also auch ›unbewusste Motive‹, die erklärt werden mussten.
Kryptomnesie: die Experimente
Als der Neurologe und Verleger Pierre Vinken 1982 seine Antrittsrede den Problemen Plagiat, Prioritätskonflikten und falschen Zuschreibungen widmete, kam er auch auf mögliche Erklärungen für ›unbewusstes Plagiat‹ zu sprechen. Über Kryptomnesie sagte er damals: »Eine befriedigende Erklärung dafür fehlt. Das Rätselhafte daran ist gerade ein Merkmal des Phänomens.«
Anmerkung
Das Rätsel Rätsel sein zu lassen ist glücklicherweise kein Leitprinzip in der Psychologie, in der man 1989 erste Versuche startete, Kryptomnesie experimentell in den Griff zu bekommen. Zwei amerikanische Psychologen, Brown und Murphy, entwarfen einen Ansatz, der in groben Zügen von späteren Wissenschaftlern verwendet wurde.
Anmerkung
In einer ersten Sitzung erhalten Versuchspersonen den Auftrag, Ideen vorzubringen. Diese können sich um etwas ganz Einfaches drehen, wie etwa die Leitlinien für ein bestimmtes Gebiet zu nennen, aber es gibt auch Experimente, bei denen die Teilnehmer über die Lösung eines komplizierten medizinischen Problems brainstormen sollen. Während einer zweiten Sitzung, einige Wochen oder Monate später, werden die Teilnehmer gebeten, anzugeben, was sie selbst beim letzten Mal beigesteuert haben. In einer dritten und letzten Sitzung erhalten sie den Auftrag, Ideen vorzutragen, die bislang noch nicht vorgebracht wurden.
In den vergangenen zwanzig Jahren wurden einige Dutzend Experimente in diesem Stil durchgeführt. Als Ergebnis wurde immer festgehalten, dass Teilnehmer während der zweiten Sitzung dazu neigen, Ideen anderer als eigenen Beitrag anzuführen, oder in der dritten Sitzung mit Ideen zu kommen, die sie selbst für neu hielten, die aber in Wirklichkeit bereits früher vorgeschlagen wurden, meist von anderen. Die Ursache ist nicht schlichtweg Verwirrung über die Eigentumsrechte, denn es werden durchaus auch eigene Ideen anderen zugeschrieben, obwohl dies zahlenmäßig im Vergleich zu den Ideen anderer, die man sich selbst zuschreibt, kaum ins Gewicht fällt. Es geschieht auch in aller Aufrichtigkeit. Selbst wenn Versuchspersonen dadurch, dass sie Ideen der richtigen Quelle zuschreiben, einen ansehnlichen Betrag verdienen können (und das auch im Voraus wissen), werden sie dennoch ab und zu sich selbst als Quelle der Ideen eines anderen angeben.
Anmerkung
Aufrichtigkeit ist nicht das Gleiche wie Unparteilichkeit. Die unentrinnbare Konsequenz ist, dass jedes Individuum für sich den Eindruck bekommen muss, Kryptomnesie sei etwas, an dem vor allem die Kollegen leiden. Derjenige, der sich wiederholt seiner Ideen abspenstig gemacht sieht, muss sich wie ein ehrlicher Mensch inmitten einer Räuberbande fühlen.
Das Muster dieser Art von Experimenten ist viel älterer Forschung nach ›Quellenamnesie‹ entnommen, dem Vergessen der Herkunft dessen, woran man sich erinnert. Quellenamnesie kann dazu führen, dass man ein Gerücht, das einem gerade zu Ohren gekommen ist, einem Kollegen nach dem anderen weitererzählt und schließlich auch dem Kollegen wieder, von dem man das Gerücht gerade gehört hatte (und der einem, so erinnert man sich nun plötzlich auch wieder, ans Herz gelegt hatte, dieses nicht weiterzuerzählen). Kryptomnesie ist etwas anderes. Bei Quellenamnesie hat man vergessen, von wem man etwas gehört oder gelesen hat, aber nicht, dass es eine Quelle gab. Bei einem reinen, authentischen Fall von Kryptomnesie hat man auch das vergessen. Die glänzende Idee, die Lösung, der glückliche Einfall, der plötzlich im Bewusstsein auftaucht, kommt in Wirklichkeit aus dem eigenen Gedächtnis, wird aber nicht als Erinnerung erkannt.
Es stimmt natürlich: Zu vergessen, wer oder was die Quelle war, bringt einen schon ein gutes Stück weit auf dem Weg, Ideen anderer Leute zu haben. In der Forschung zeigt sich dann auch, dass die Faktoren, die Quellenamnesie Vorschub leisten, zugleich die Chance auf Kryptomnesie erhöhen. Je mehr Zeit zwischen den Sitzungen verstreicht, desto häufiger tritt ein Fall von Kryptomnesie auf. Auch wenn sich die Quellen sehr ähneln, zum Beispiel weil alle Kommilitonen sind, führt dies häufiger zu Kryptomnesie. Ebenso führt das Geschlecht zu Unterschieden: Frauen eignen sich leichter eine Idee von Frauen an, Männer die von Männern. Es
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