Das Buch des Vergessens

während einer Trance in ihr Bewusstsein dringen. Auch ihre detaillierten Geschichten darüber, wie es am Hof von Ludwig XVI . zuging, waren durch Kryptomnesie zu erklären: Was sie einst als junges Mädchen in Enzyklopädien und historischen Abhandlungen gelesen hatte, war in wachem Zustand nicht abrufbar, während der Trance jedoch schon.
    Flournoy sah im Auftreten von Kryptomnesie eine Bestätigung der Theorien Frederic Myers’. Dieser britische Altphilologe, 1882 Mitbegründer der Society for Psychical Research, hatte den menschlichen Geist in ein subliminales und ein supraliminales Selbst eingeteilt. Nur was sich über der Grenze (›limen‹, Schwelle) befindet, ist dem persönlichen Bewusstsein zugänglich. ›Subliminal‹ ist sein viel bekannter gewordener Beitrag zum psychologischen Vokabular und lebt in der Theoriebildung zu subliminalen Botschaften weiter: Reize, die zu kurz oder zu leicht sind, um bewusst wahrgenommen zu werden, aber doch den Geist zu durchdringen wissen. Was dem Medium Smith geschehen war, schrieb Flournoy, passe perfekt zu den Fällen, die Myers bereits gesammelt hatte und bei denen die Erinnerung an eine subliminale Wahrnehmung (das heißt: direkt registriert, ohne von der normalen Persönlichkeit bemerkt zu werden) als eine Offenbarung in einem Traum oder einer ähnlichen Form von Automatismus erscheine.
Anmerkung
Myers seinerseits definierte ›cryptomnesia‹ 1903 als die versunkene odersubliminale Erinnerung an Ereignisse, die das supraliminale Selbst vergessen habe.
Anmerkung
    Auch Ärzte zeigten Beobachtungen auf, die nur mithilfe von Kryptomnesie erklärbar schienen. 1902 beschrieb Doktor Freeborn in der Lancet den Fall einer siebzigjährigen Frau, die während eines Fieberdeliriums auf einmal Hindi zu sprechen begann, eine Sprache, die sie seit ihrem vierten Lebensjahr nicht mehr gesprochen hatte und von der sie nicht einmal wusste, dass sie diese jemals beherrscht hatte.
Anmerkung
Nach ihrer Genesung war diese Sprache wieder ebenso unzugänglich wie zuvor. Ein Kollege Freeborns schrieb in seinem Kommentar, das erinnere ihn an einen Fall, von dem Coleridge berichtet hatte: Eine ungebildete Dienstmagd hatte während eines Fieberanfalls stundenlang griechisch und hebräisch rezitiert; später hatte sich herausgestellt, dass sie als junges Mädchen bei einem Pfarrer in Diensten war, der die Gewohnheit besaß, laut vorzulesen. In all diesen Fällen waren ›vergessene Erinnerungen‹ nachträglich ins Bewusstsein gedrungen, meist vorübergehend.
    Kryptomnesie hatte zu dieser Zeit noch nichts mit Plagiat zu tun. Sie war die Erklärung für Phänomene, die einen paranormalen Ursprung zu haben schienen, aber in Wirklichkeit die Folge von Erinnerungen waren, die nur unter besonderen Umständen – Traum, Trance, Delirium – ins Bewusstsein gelangten. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Parapsychologie an den Rand der Psychologie manövriert. Doch der Begriff der Kryptomnesie blieb als Beschreibung für den Vorgang, dass Erinnerungen vorübergehend aus dem Bewusstsein verschwinden können und dann bei ihrer Rückkehr nicht als Erinnerungen erkannt werden. Psychoanalytiker nahmen Kryptomnesie begierig in ihre Theorien über Vergessensprozesse auf. Freud tat dies bereits 1901. Anlass war ein persönlicher Fall von Kryptomnesie, den er in seiner Psychopathologie des Alltagslebens beschrieb. Freud erzählte seinem Freund Wilhelm Fließ, er sei nun doch zu der Erkenntnis gekommen, dass jedes Individuum sein Leben bisexuell beginne. Fließ reagierte verletzt: »Das habe ich dir schon vor 2   1 / 2 Jahren in Br. gesagt, als wir jenen Abendspaziergang machten. Du wolltest damals nichts davon hören.«
Anmerkung
Freud konnte sich an ein solches Gespräch nicht erinnern, aber im Laufeder Woche fiel ihm alles wieder ein, und er fügte hinzu: »Aber ich bin seither um ein Stück toleranter geworden, wenn ich irgendwo in der medizinischen Literatur auf eine der wenigen Ideen stoße, mit denen man meinen Namen verknüpfen kann, und wenn ich dabei die Erwähnung meines Namens vermisse.«
Anmerkung
Freuds Ruf als streitbarer Wächter über die Priorität seiner Ideen kann jedenfalls nicht seinem Selbstbild entstammen.
    In der Psychoanalyse wurde Kryptomnesie vorläufig nur noch geheimnisvoller. Ein amerikanisches Wörterbuch der Psychologie aus dem Jahr 1934 definierte Kryptomnesie als »einen Gedächtniszustand, bei dem die ursprünglichen Erfahrungen durch Einfluss unbewusster Motive vergessen