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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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und Handeln steuern. Der Fall des Mannes mit dem Wasserkopf, bei dem der Hirnbalken der Länge nach gespalten war, war ein ›experiment of nature‹, und Wigan hatte recht mit der Feststellung, dass diese Trennung keine sichtbaren Folgen für das Denken und Handeln hatte. Einer neusten Schätzung zufolge bedeutet ein vollständig gespaltenes corpus callosum, dass etwa 200 Millionen neuronale Verbindungen unterbrochen sind, aber erst unter den künstlichen Bedingungen von ›split-brain‹-Experimenten im Labor kommt ans Licht, dass man von einer gewissen hemisphärischen Spezialisierung sprechen kann.
Anmerkung
Beide Hälften führen in hohem Maße dieselben Aufgaben aus, und dort, wo man von Spezialisierung reden kann, wie bei der Sprache, sind die Prozesse gewissenhaft koordiniert. Die anatomische Symmetrie der Hemisphären ist der passende Ausdruck ihrer funktionalen Symmetrie. Dass Hirnhälften abwechselnd ein- und ausgeschaltet sein können oder jeweils ihre eigenen Erinnerungen und Vorstellungen haben, wie Wigan dachte, stimmt nicht.
    Wigan selbst erhoffte sich von der Akzeptanz seiner Theorie einen gnädigeren Umgang mit all den Unglücklichen, die ihr Leben lang gezwungen seien, ganz genau auf eines ihrer beiden Gehirne zu achten, und die dennoch manchmal die Kontrolle darüber verlören und dadurch Dummheiten begingen, die nicht zu ihrem Leben und Charakter passten.
Anmerkung
Ihre Anstrengungen seien heroisch, aber unsichtbar; erst wenn sie den Kampf verlieren, würde deutlich, welchen Impulsen sie die ganze Zeit hätten Widerstand leisten müssen. Solche Menschen verdienten Mitleid und Ermutigung, keine Strafe oder Schande. Vor allem junge Menschen seien verletzlich. Sie hätten ihr gesundes Gehirn noch nicht in der Tugend und Willenskraft erziehen können, die für diese Aufsicht notwendig sei. Er habe lange genug gelebt, schrieb Wigan, um Männer zu kennen, die in ihrer Jugend Dummheiten und Missetaten begangen hätten, von ihren wohlhabenden Eltern jedoch vor den Konsequenzen bewahrt worden seien. Später hätten sie sich zu Männern von Ehre und gutem Ruf entwickelt, und es war, als habe es diese lasterhafte Vergangenheit nicht gegeben. Dieselben Taten, begangen von Armen, hätten ein Leben der Schande eingeläutet.
    Die Sprache, in der Wigan das Verhältnis zwischen beiden Gehirnen beschreibt, strotzt vor Hierarchie und Disziplin. Das führende Gehirn befiehlt, kontrolliert und wacht, das andere hat sich zu unterwerfen. Zügel werden im gesamten Buch angelegt, angezogen, gelockert oder niedergelegt. Aber das führende Gehirn kann das nicht aus sich selbst heraus, es muss dazu erzogen werden. Das Ziel von Erziehung und Bildung ist es, dem Führenden das Führen beizubringen. So gesehen wird im Umgang zwischen beiden Gehirnen mit Befehlsgewalt, Beherrschung und Willenskraft ein Stück viktorianischer Erziehung reproduziert. Eine Generation später sollte der Londoner Neurologe Hughlings Jackson auf der Grundlage von Sprachstörungen nach Hirnschäden die linke Gehirnhälfte als ›die ältere der Zwillinge‹ bezeichnen – der vernünftigere, der bessere Kandidat für die Übernahme der Leitung.
Anmerkung
Wenn die rechte Hirnhälfte bei einem Aphasiepatienten doch noch etwas zuwege bringen konnte, war es häufig ein Fluch oder ein Schimpfwort. Dass die linke Seite die Zügel des Denkens fest in Händen hielte, sei für beide Hirnhälften am besten.
    Mit seiner Faszination für Disziplin und Selbstbeherrschung, und der Lust und dem Wahnsinn, die ihnen entgegenstehen, verschwand Arthur Wigan in der Anonymität der Geistesgeschichte. Erst 1886 sollten seine Ideen wieder an die Oberfläche kommen, und zwar in einem Buch, das kurioserweise im selben Verlag erschien, der The duality of the mind herausgebracht hatte. The strange case of dr. Jekyll and mister Hyde, verfasst von Robert Louis Stevenson – kein Arzt, kein Psychiater –, sollte dem Denken über Geistesgestörtheit sehr wohl einen bleibenden Stempel aufdrücken.
Das Theater des Geistes
    Man stelle sich ein Theater vor. Die Zuschauer sind gespannt, sie wissen nicht, was sie erwartet. Natürlich versuchen sie zu erraten,was man ihnen darbieten wird. Jemand sieht, dass ein Schuh mit einer Schnalle unter dem Vorhang hervorlugt, und glaubt, es werde mit einem Ballet beginnen, jemand anderes sieht die Umrisse eines Hutes und erwartet ein Trauerspiel. Beim Raten ist der erfahrene Besucher klar im Vorteil. Wigan war ein solcher Besucher. »Ich bin ein

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