Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
Dollar durch das Heil von Bra-«.
Anmerkung
Er hatte keine Ahnung, was er damit meinte.
    Ein noch seltsameres Phänomen, auch wenn es gut dokumentiert und den meisten Medizinern bekannt war, betraf Personen, die aufgrund einer unbekannten Ursache plötzlich in einen Geisteszustand gerieten, der noch am ehesten dem Somnambulismus ähnelt. Dieser Zustand kann stundenlang andauern, und während der gesamten Zeit reden, schreiben und singen die Betroffenen oder spielen ein Instrument, als seien sie bei vollkommen klarem Verstand. Kaum wachen sie auf, haben sie keinerlei Erinnerungen an ihre Erlebnisse während ihres schlafwandlerischen Zustands. Tritt dieser wieder ein, sind sofort auch Erinnerungen an vorherige Male vorhanden und stattdessen die Erinnerungen an das Leben im Wachzustand verschwunden. Dies werde meist ›doppeltes Bewusstsein‹ genannt, schrieb Wigan, aber er spreche lieber von ›wechselnden Bewusstseinen‹, die Person bestände schließlich in gewisser Weise aus zwei Individuen.
Anmerkung
    Zwei Nieren bewältigen zweimal so viel Arbeit wie eine. Aber diese schlichte Addition geht bei den zwei Gedächtnissen von Wigan nicht auf. Hier ist die Verdopplung eher eine Halbierung: Das eine Gehirn weiß nicht, woran sich das andere erinnert. Diese ›wechselnden Bewusstseine‹ würden heute zur Diagnose ›Dissoziation‹ führen, offiziell: ›dissoziative Identitätsstörung‹ ( DIS ). Diese Störung ist selbst wiederum der Nachfolger der ›multiplen Persönlichkeitsstörung‹ ( MPS ), einer Diagnose, die in den 1980er-Jahren häufig gestellt wurde. Eine der offiziellen diagnostischen Kriterien ist, dass sich die Person an wichtige persönliche Informationen nicht erinnern kann und dieser Gedächtnisverlust nicht mit normaler Vergesslichkeit zu erklären ist. In den meisten Fällen hatten – oder haben: Die Diagnose ist selten geworden, wird aber hin und wieder noch gestellt – die abgespaltenen Personen oder Alter Ego ihre eigenen Erinnerungen. Ein Unterschied zu den Fällen ›wechselnder Bewusstseine‹, auf die Wigan hingewiesen hat, ist, dass sich bei MPS oder DIS eine unbestimmte Anzahl von Alter Ego abspalten kann. Die Lehre vom doppelten Gehirn implizierte in dieser Hinsicht eine gewisse Mäßigung.
Unbemerkt
    Die Bedeutung seines eigenen Werks beschrieb Wigan in sich selbst schmeichelnden Metaphern. Wenn man das Seil, mit dem ein Tier angepflockt ist, um die Hälfte verlängert, erklärte er in seinem Vorwort, wird man seinen Bewegungsspielraum verdoppeln; nun, er, Wigan, habe tatsächlich nicht mehr getan, als ein paar zusätzliche Glieder in die Kette der Erforschung von Gehirn und Geist einzufügen. Weiter hinten verglich er seine Lehre mit einer ersten Bahnlinie, die immer die Hauptlinie im dicht verzweigten Netz der Zukunft bilden würde, eine geschickt gewählte Metapher in einer Zeit, als England eine schnelle Expansion des Eisenbahnnetzes erlebte. Seine Zeitgenossen, wenn sie überhaupt über sein Werk nachdachten, sahen das anders. In der ›offiziellen‹ Wissenschaft wurde Wigan nicht nennenswert rezipiert. Was seine Begegnungen mit jenen mehr als einhundert vortrefflichen Geistern auf dem Kontinent auch beinhaltet haben mögen, sie haben jedenfalls in ihren Werken keine Spuren hinterlassen. Duality war Sir Henry Holland gewidmet, begleitet von überschwänglichen Komplimenten, aber wenn sich Holland geehrt gefühlt haben sollte, hat er es sich nie anmerken lassen. Der soziale Abstand zwischen dem pensionierten Hausarzt und dem Leibarzt der königlichen Familie war dafür auch viel zu groß. Wigan fehlte jegliches Talent zum, wie es heute heißt, ›netzwerken‹. Seine Theorie wurde nicht aktiv negiert, sondern eher ignoriert. Nur der treue Forbes Winslow schrieb 1849 noch einen Artikel über ein nachgelassenes Werk seines verstorbenen Freundes, obwohl dieses unter dem Titel »The unpublished manuscripts of the late Alfred Wigan, M.   D.«
Anmerkung
erschien. Wigan hieß Arthur.
    Die Erforschung von ›split-brains‹ – bei denen aus klinischen Gründen ein Schnitt im Hirnbalken gemacht wird – ließ zwar kurz das Interesse an seinem Werk wieder aufleben, brachte aber keine späte Anerkennung. Der Hirnbalken, für Wigan eine Art Zaun zwischen den beiden Gehirnen, ist in Wirklichkeit ein Nervennetzwerk für die Kommunikation zwischen der linken und der rechten Hemisphäre. Beide Gehirnhälften sind gleich intensiv in die Prozesse einbezogen, die unsere Wahrnehmung, unser Denken

Weitere Kostenlose Bücher