Das Buch des Vergessens
augenblicklich wieder. Selbst wenn er sich eine Stunde mit jemandem unterhalten habe, sei er am nächsten Tag nicht in der Lage, dessen Gesicht zu erkennen. In seinem Beruf war er auf gute Kontakte angewiesen, und durch diese unselige Einschränkung, schrieb Wigan, gehe viel Zeit damit verloren, ›Menschen vor den Kopf zu stoßen und sich anschließend dafür entschuldigen zu müssen‹.
Anmerkung
Wenn er einem Bekannten begegnete, erkannte er ihn erst, wenn dieser zu sprechen begann. Er dachte, es läge an seinen Augen, und fürchtete, auf Dauer blind zu werden. In diesem Punkt könne Wigan ihn beruhigen, aber helfen könne er ihm nicht: Die Störung müsse ihren Ursprung im Gehirn haben. Der Mann war fest entschlossen, sein Handicap weitestgehend zu verbergen – entgegen Wigans Rat, der der Ansicht war, das beste Mittel für die Wiederherstellung des Kontakts mit den mittlerweile entfremdeten Freunden sei, sich zu der Störung zu bekennen. Im Kapitel ›Der Mann, der Gesichter vergaß‹ (S. 105) ist aufgezeigt worden, dass diese Störung – die heutige ›Prosopagnosie‹ – erst 1947 zum ersten Mal in der neurologischen Literatur dokumentiert wurde.
Anmerkung
Wigan hat das Vergessen von Gesichtern nicht mit seiner Theorie über die zwei Gehirne in Verbindung gebracht. Es ist auch nicht so klar, wie dies vonstattengehen sollte: Wenn es eine Störung in einem der beiden Gehirne wäre, könnte ja das andere die Aufgabe übernehmen. Vielleicht hat Wigan gedacht, bei diesem Mann müssten wohl beide Gehirne in Mitleidenschaft gezogen sein. In den letzten zwanzig Jahren hat sich herausgestellt, dass bei gut der Hälfte der Fälle tatsächlich eine doppelseitige Hirnschädigung vorliegt. Bei einer einseitigen Schädigung ist meist die rechte Gehirnhälfte betroffen. Gesichter zu vergessen bedeutet mehr als den Ausfall nur einer spezifischen Funktion, es hat unangenehme Konsequenzen, die genau wie bei Wigans Patient viel weiter reichen: Es ist gerade das Gesicht – und nicht etwa jemandes Kleidung oder Gang –, das der Erinnerung an diese Person Zugang verschafft.
Dissoziation
Wigan hatte sein Werk Duality Henry Holland gewidmet, welcher gleichzeitig auch der einzige Autor war, der von ihm lobend zitiert wurde. 1839 hatte Holland in seine Medical notes and reflections ein Kapitel aufgenommen mit dem Titel ›On the brain as a double organ‹.
Anmerkung
Hierin hatte er die Möglichkeit in Betracht gezogen, bei Geistesgestörtheit könne es sich um die Folge einer Disharmonie zwischen beiden Hirnhälften handeln. Das war nicht exakt das, was Wigan meinte – für Wigan waren es keine Hirnhälften, sondern selbstständige Gehirne –, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. Der gefeierte Societyarzt bekam das ziemlich fragwürdige Kompliment, er habe »äußerst scharfsinnig und korrekt entlang einer Linie parallel zur Wahrheit argumentiert, die sich aus diesem Grund daher auch als unerreichbar erweise«.
Anmerkung
Die Kursivierung stammt von Wigan selbst. Holland hatte auf Fälle verwiesen, die scheinbar die Lehre der doppelten Gehirne bestätigten. Eine junge Frau litt unter Anfällen, die einige Stunden oder Tage andauern konnten, in denen sie von einer anderen Identität beherrscht zu werden schien. In diesem Zustand las sie andere Bücher als in ihrem ›normalen‹ Leben, und wenn der Anfall vorüber war, hatte sie keinerlei Erinnerung an das Gelesene. Sie schien in den unterschiedlichen Zuständen getrennte Erinnerungen zu sammeln. Diesem Phänomen eines doppelten, aber gegenseitig undurchdringlichen Gedächtnisses war Wigan selbst auch begegnet. Bei seinen Patienten hatte der schleichende Verlauf der Geistesgestörtheit oft noch deutliche Erinnerungen hinterlassen, aber wenn sich die Übernahme erst einmal vollzogen hatte, landeten Erfahrungen in einem anderen Gedächtnis. Nach der Genesung erinnerten sie sich an nichts, was sie während ihrer Krankheit erlebt hatten. Dies konnte sich auch bei kürzeren Unterbrechungen des klaren, bewussten Lebens ereignen. Von einem Kollegen leitete Wigan den Fall eines Mannes her, der einen Scheck auszustellen versuchte und dem es einfach nicht gelang, aufzuschreiben, was er schreiben wollte, nach den ersten paar Wörtern schien es, als führe der Stift ein Eigenleben. Der Anfall dauerte eine halbeStunde. Sobald er wieder bei sich war, sah der Patient, dass er statt »fünfzig Dollar, entsprechend dem Betrag für ein halbes Jahr« geschrieben hatte: »fünfzig
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