Das Buch des Vergessens
aufmerksamer und konzentrierter Beobachter gewesen und ein regelmäßiger Besucher dieses großen Theater des Geistes. Ich meine, dass ich in manchen Fällen in der Lage bin, die Art der Vorstellung zu erraten. Der Vorhang ist der knochige Schädel, der verbirgt, was da vor sich geht, aber gewissenhafte Aufmerksamkeit für Ihr eigenes Theater, Ihren eigenen kleinen Mikrokosmos, wird Sie in die Lage versetzen, Ihre eigenen Vorstellungen vorherzusagen und mit Scharfsinn die anderer zu erraten.«
Anmerkung
Die Theatermetapher ist die Einleitung zu einer Fallbeschreibung, in der Wigan einen ›intimen Freund‹ anführt. Aber die Erlebnisse dieses Freundes erinnern so sehr an die Wigans in den finanziell schlimmen Zeiten in Brighton, dass sich die Vorstellung aufdrängt, es mit einem autobiografischen Fragment zu tun zu haben, umso mehr, als dieser ›Freund‹ dieselbe revolutionäre Überzeugung eines doppelten Gehirns pflegte. Er hatte seine Geschichte auf Ersuchen Wigans zu Papier gebracht.
Anmerkung
Es handelte sich um einen Mann mit einem aufrechten und wahrheitsliebenden Charakter, der aufgrund einer langen Reihe von Katastrophen und Rückschlägen in Schwierigkeiten geraten war. Das hatte ihn in sehr demütigende Situationen gebracht. Er wurde von dem Gedanken gequält, man betrachte ihn nun als Mann, der seine Ehre verloren hatte, und auch wenn ihm in ruhigen Momenten bewusst wurde, dass es sich um eine Wahnvorstellung handelte und seine Freunde ihm immer noch mit Respekt begegneten, konnte er den Gedanken nicht von sich weisen, er habe irgendein fürchterliches Verbrechen begangen. In diesem Zustand sah er in aller Deutlichkeit, was ihm bevorstand: den übervollen Gerichtssaal, das Schwurgericht, das Todesurteil. In Gedanken sah er sich Gnadengesuche an die Königin und beide Kammern des Parlaments verfassen. Während der gesamten Zeit wusste er, dass er kein Verbrechen begangen hatte, und dennoch fühlte er sich, als hinge er über einemAbgrund. Er war davon überzeugt, er werde in den Wahnsinn abgleiten, wenn er auch nur einen der Zügel aus der Hand gab.
Was er nicht verstand, war, dass er in angenehmer Gesellschaft und nach ein paar Gläsern Wein durchaus sehr fröhlich war, nahezu ausgelassen. Dann erzählte er gern, was er in seinem sehr bewegten Leben und einer abwechslungsreichen Laufbahn erlebt hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich eine Traube von Zuhörern um ihn bildete, die ihn anflehten, doch weiterzuerzählen. Aber plötzlich überkam ihn dann der alte Wahn, und von einem Moment zum anderen schien sich ein Vorhang vor all diese fröhlichen Szenen zu schieben: »Ich konnte nichts mehr herausbringen; hatte das Gefühl, alle Augen der Welt seien auf mich gerichtet, fühlte mich tief unglücklich und erbärmlich; jedes unangenehme Ereignis in meinem Leben drängte sich erneut auf, und ich versuchte vergebens, mich an auch nur einen einzigen Vorfall oder Erwägungen meines anderen Charakters zu erinnern.«
Anmerkung
Erfahrungen wie diese hatten ihn in der Idee bestärkt, in seinem Geist müsse es sich um eine doppelte Identität mit Erinnerungen handeln, die sich nicht austauschen ließen.
Eines Abends war es ihm so schlecht ergangen, dass er zum Meer gelaufen war. Im Mondlicht machte er einen Spaziergang über den Kiesstrand. Einigermaßen beruhigt vom Rauschen der Wellen und tief in Gedanken merkte er zu spät, dass er von der Flut eingeschlossen worden war. Hastig watete er ans Ufer zurück. Frierend und erschrocken spürte er, wie ihn jede Kontrolle über seine Gedanken verließ. Sein Blick folgte dem glänzenden Streifen des Mondlichts, der sich über das Wasser bis zum Horizont erstreckte, und er sagte zu sich: »Dieser glänzende Pfad ist der Weg zum Glück, folge ihm.« Er ging zu einem Boot, das weit auf dem Trockenen lag, und wollte es ins Wasser ziehen und über den glänzenden Pfad davonfahren. Aber plötzlich wurde ihm die Absurdität dieses Plans bewusst, und er rannte davon. Gleichzeitig verspürte er einen starken Drang, zum Boot zurückzukehren, und er hörte eine deutliche Stimme, die seine eigenen Worte wiederholte: »Dieser glänzende Pfad ist der Weg zum Glück, folge ihm.« Er merkte, dass er dem Boot gegen seinen Willen doch immer näher kam. Er hätte es mühelos ins Meerschieben können, denn das Wasser war inzwischen kräftig gestiegen. Im letzten Moment warf er sich in seiner Verzweiflung auf den Boden. Erst dann fühlte er sich vor seinen eigenen Impulsen
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