Das Buch des Vergessens
geschützt. Nach über einer Stunde auf den Kieselsteinen hatte er sich so weit beruhigt, dass er heimwärts gehen konnte, in dem sicheren Wissen, dass er wahrscheinlich ertrunken wäre, wenn er hinausgefahren wäre.
War Wigan selbst über diesen nächtlichen Strand geirrt, verzweifelt wegen der Schande des Bankrotts und im Kampf gegen den Impuls, seinem Leben ein Ende bereiten zu wollen? Das Fragezeichen muss stehen bleiben. Der ›Freund‹ schrieb, mit seiner Aussage hoffe er auf Mitleid gegenüber Menschen, die mit aller Kraft ein aus den Fugen geratenes Gehirn unter Kontrolle zu halten versuchten; genau das wollte Wigan mit seinem Buch erreichen.
Diese beiden Gehirne von Wigan, das eine gesund und willensstark, das andere folgsam und verwirrt; das eine korrigierend, beruhigend, vernünftig, das andere impulsiv, wollüstig – welche Dämonen, fragt man sich, hat Wigan selbst bannen müssen? Auf einer der letzten Seiten zitiert er zwei Zeilen des schottischen Dichters Robert Burns aus dem achtzehnten Jahrhundert:
Anmerkung
What’s done ye partly may compute
But never what’s resisted.
Es sind die Schlusszeilen einer Anklage gegen Heuchelei und die Neigung, allzu schnell über andere zu urteilen. Wigan sah im Kalkül des Gemütslebens auch die Versuchungen und Verführungen und bezog sie in sein Urteil über das Ergebnis des Kampfes mit ein. Fast immer fiel dieses Urteil milde und versöhnlich aus, auch wenn der Kampf verloren war. Als Leser von Duality beschleicht einen manchmal das Gefühl, bei Wigan im Sprechzimmer zu sitzen und ein verständnisvolles Ohr für die eigene Geschichte gefunden zu haben, auch wenn man etwas erzählt hat, für das man sich schämt. Er findet genau die richtigen Worte: »Jeder Mensch kennt seine eigenen schlechten Einflüsterungen, er hat sie unterdrücken können. Aber niemand weiß, welcher seiner Nachbarn, die er für heilig hält,mit denselben Schwierigkeiten kämpfen; noch weniger weiß er, wer diesen bösen Neigungen hat nachgeben müssen, von keinem gesehen, außer von dem Einen.«
Anmerkung
In diesem ›Unterdrücken‹, suppress, ist schon etwas von der Achse zu lesen, entlang der ein halbes Jahrhundert später viele der in Duality angeführten Phänomene aufgeteilt werden würden, der Achse zwischen bewusst und unbewusst. Diese Achse bestand nicht mehr aus einer neurologischen Zweiteilung, obwohl noch lange danach gesucht werden würde, auch von Freud selbst. Bewusst und unbewusst wurde zu einer psychischen Zweiteilung. Die Achse sollte nach Wigan auch eine Vierteldrehung machen. Aus den Positionen auf einer horizontalen Achse – Wigan hatte versucht, den Umgang zwischen dem linken und dem rechten Gehirn zu verstehen – wurde ›hoch‹ und ›tief‹ zur Richtung der Achse zwischen bewusst und unbewusst. Jetzt waren es die niedrigen Triebe, die in Schach gehalten werden mussten und aus der Tiefe des Unbewussten oder sogar des Unterbewussten stammten. Hier musste wirklich kräftig geschoben werden.
Bei Wigan ist zwischen den Zeilen schon die Erkenntnis zu lesen, dass Weggeschobenes nicht wirklich verschwindet. In der langen Geschichte über den ›Freund‹, der fast den glänzenden Pfad des Mondlichts genommen hätte, steht eine beiläufige Bemerkung, die sich im Gedächtnis verankert. Als er verwirrt und ratlos über jenen Strand lief, hätte er seine Verzweiflung so gern hinausschreien wollen, er hatte das seltsame Gefühl, das könne ihm guttun, ihm Erleichterung verschaffen und danach könne er sich wieder beherrschen. Aber er hatte es sein lassen, er hatte Angst, einer der Küstenwächter könne ihn hören. Selbst am Meer, mitten in der Nacht, im Tosen der Brandung, hatte er sich noch beherrschen müssen. Er konnte nirgendwo hin mit seiner Erschütterung.
Über das Verdrängen
Jeder Gedächtnispsychologe, der einmal eine Lesung vor einem größeren Publikum als dem seiner Fachkollegen hält, weiß, dass nach der Pause auf jeden Fall folgende drei Fragen gestellt werden. Zuallererst: Kann man sein Gedächtnis trainieren? Danach: Funktioniert das Gedächtnis von Frauen anders als das von Männern? Und schließlich: Verdrängen, gibt es das?
Die beiden ersten Fragen sind kein Problem. Die Trainierbarkeit unseres Gedächtnisses ist erschöpfend untersucht worden, und sobald spezifiziert ist, um welchen Gedächtnistyp es geht, kann erläutert werden, ob und in welchem Maße Übung zu besserer Gedächtnisleistung führt. Auch zu geschlechtsspezifischen
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