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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Frage, ob es Verdrängen gibt, mit einer Definition anzufangen – einer bestehenden oder einer selbst gebastelten –, wäre also irreführend. Definitionen sind parteiisch, sie riechen nach der Theorie, von der sie abstammen, der Zeit, in der sie formuliert wurden – Definitionen sind gerade ein Teil des Problems. Produktiver ist es, zu untersuchen, in welchen wissenschaftlichen und therapeutischen Praktiken Verdrängen angewendet wird. Dann wird die Problemstellung um einiges griffiger. In welchen theoretischen oder experimentellen Zusammenhängen kommt Verdrängen vor? Wie wird Verdrängen verursacht, was sieht man als Effekt? Ist Verdrängen schädlich oder heilsam, kann es rückgängig gemacht werden? Fragen wie diese bieten die Chance, Verdrängen in Aktion zu sehen, in der Wildnis, im eigenen Biotop.
    Aus der langen Geschichte von Kontroversen über das Verdrängen seien hier drei Episoden gewählt. 1905 veröffentlichte Freud eine Fallstudie über ›Dora‹, ein Mädchen, das bei ihm wegen Beschwerden hysterischer Art in Analyse gewesen war. Sie hatte, ohne es selbst zu wissen, alles Mögliche verdrängt, und Freuds Analyse zielte darauf ab, erklärte er ihr, die Beschwerden verschwinden zu lassen, indem er ihr half, sich diese Erinnerungen wieder bewusstzu machen. Hundert Jahre später ist ›Dora‹ vielmehr eine Fallstudie zu Freuds Auffassungen über das Verdrängen.
    Die zweite Episode begann um 1990 in Amerika als Kontroverse über ›recovered memories‹. Ausgangspunkt war die Frage, ob es möglich sei, dass jemand als Kind missbraucht wurde, die Erinnerungen daran verdrängt, den Missbrauch zehn, zwanzig oder dreißig Jahre lang vollkommen vergessen hat und dann die Erinnerungen in der Therapie ›wiederfindet‹. Unter dem Druck anstehender Rechtsfälle, bei denen wiedergefundene Erinnerungen als Beweismaterial vorgelegt wurden, musste auch in Deutschland eine Antwort auf diese Frage formuliert werden.
    Die dritte Episode begann in derselben Zeit, auch in Amerika, als die Psychotherapeutin Francine Shapiro eine neue Technik für den Umgang mit traumatischen Erinnerungen präsentierte. Das Verfahren – ›Eye Movement Desensitization and Reprocessing‹ ( EMDR ) – wirkt auf den ersten Blick recht bizarr. Der Klient soll sich das traumatische Erinnerungsbild möglichst lebendig vorstellen, während er gleichzeitig mit den Augen der sich schnell hin- und herbewegenden Hand oder dem Finger des Therapeuten folgt. Danach sollte die Erinnerung von der belastenden Emotion befreit sein und als mehr oder weniger neutrales Bild ins Gedächtnis zurückkehren. Verschiedene Effektstudien geben an, EMDR sei wirksam. Sowohl EMDR als auch die kognitive Verhaltenstherapie gelten als gut einsetzbare, wissenschaftlich überprüfte Behandlungsmethode bei traumabezogenen Störungen.
    Das Nebeneinanderstellen dreier chronologisch und bezüglich ihres Hintergrunds so weit auseinanderliegender Ansätze soll keineswegs den Eindruck eines Gleichgewichts vermitteln. Vielmehr soll gezeigt werden, dass diese spezielle Form des Vergessens, die als Verdrängen bezeichnet und als nicht vergessen aufgefasst wird, tief verwurzelt ist in untereinander sehr verschiedenen Konstellationen von Traumata, unbewussten Prozessen und Auffassungen über Nutzen oder Notwendigkeit, dieses Verdrängen wieder ungeschehen zu machen.

Dora
    Elf Wochen lang, sechs Tage die Woche, war Ida Bauer, achtzehn Jahre alt, in die Berggasse 19 gekommen, um sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. Die Sitzungen verliefen nach einem festen Schema. Ida wurde in das Behandlungszimmer gebeten, legte sich auf die Couch und erzählte, was ihr einfiel. Freud saß am Kopfende in einem Lehnstuhl, hörte zu und machte sich ab und zu eine Notiz.
    Am letzten Tag des Jahres 1900 war Ida der Ansicht, es reiche nun. Sie kündigte an, sie wolle die Analyse einstellen, und zwar ab sofort. Freud war unangenehm überrascht. Er fragte, wann sie sich zu diesem Schritt entschlossen habe. Vor vierzehn Tagen, lautete ihre Antwort. Die Kündigungsfrist einer Dienstmagd, dachte Freud bei sich. Seiner Ansicht nach waren sie noch gar nicht bei der eigentlichen Behandlung angelangt.
    In den ersten Wochen des neuen Jahres begann Freud energisch mit der Ausarbeitung seiner Notizen, doch sollte es bis Herbst 1905 dauern, ehe es zur Veröffentlichung der Fallstudien über Ida kam.
Anmerkung
Die Studie erschien unter dem Titel Bruchstück einer Hysterie-Analyse – ›Bruchstück‹ nicht

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