Das Buch des Vergessens
Unterschieden gibt es ausführliche Untersuchungen, die zeigen, dass Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Vergleich zu den Unterschieden von Person zu Person zu vernachlässigen sind, egal ob Mann oder Frau. Wer an Unterschieden interessiert ist, hat nicht viel von einem Vergleich zwischen Männern und Frauen. Das Gedächtnis von Frauen funktioniert genau wie das von Männern, auch wenn sie damit manchmal andere Dinge behalten.
Aber jene dritte Frage. An entsprechender Forschung mangelt es auch hier nicht. Schon seit einem guten Jahrhundert erscheinen in psychiatrischen und psychologischen Fachzeitschriften Berichte über die Erforschung des Verdrängens. Das Problem liegt ebenso wenig darin, dass vieles aus dieser Forschung zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt hat. Das ist auch bei anderen Themen in der Psychologie der Fall, doch häufig kann man sich dort mit ein wenig Sortieren und Auswählen eine Vorstellung von der Position mit den besten Argumenten machen. Beim Verdrängen liegt das anders. Zunächst einmal kursieren so viele Definitionen und Versuche von Definitionen, dass man genauso gut behaupten könne, es gäbe keine Definition. Freud heranzuziehen, der bis zum heutigenTag großen Einfluss auf die Assoziationen hat, die mit Verdrängen verbunden sind, hilft niemandem weiter: Seine eigenen Definitionen änderten sich von Publikation zu Publikation. Sogar innerhalb eines speziell dem Verdrängen gewidmeten Artikels präsentierte er bildhafte Beschreibungen, die dem Leser helfen sollten, sich eine anschauliche Vorstellung vom Verdrängen zu machen. Sie stiften jedoch eher Verwirrung darüber, was Freud selbst sich unter Verdrängen eigentlich genau vorstellte.
Eine zweite Komplikation besteht darin, dass Verdrängen, egal wie es definiert wird, sich mit Begriffen überlappt wie motiviertes Vergessen, psychogene Amnesie, Dissoziation oder selektives Vergessen. Jeder dieser Begriffe seinerseits ist wiederum mit ähnlichen Metaphern verbunden, wenn erklärt werden soll, was sich im Gedächtnis abspielt: Blockieren, Abspalten, Verbannen, Abschneiden, Unterdrücken, Begraben, Verstecken. Aber selbst wenn es diese Probleme von Variation und Abgrenzung nicht gäbe, bliebe noch eine Frage, die an sich schon an das Unlösbare grenzt. In so gut wie jeder Definition über Verdrängen kommen die Begriffe Trauma und Unbewusstes vor. Versuche, diese Begriffe zu definieren, führen zu zirkulären Beschreibungen wie ›das Unbewusste ist der Teil des Geistes, in den traumatische Erinnerungen verdrängt werden‹ oder ›Verdrängen ist Blockieren traumatischer Erinnerungen‹. Verdrängen ist eine unklare Bezeichnung, gespannt zwischen zwei mindestens ebenso unklaren Vorstellungen.
Dass ein bestimmter Begriff im vergangenen Jahrhundert nicht immer dasselbe bedeutet hat, haben Psychiatrie und Psychologie mit den Naturwissenschaften gemein. Die Sekunde war bis 1967 als der 1/86.400. Teil eines durchschnittlichen Sonnentages definiert, wurde dann aber an die Schwingungen eines Cäsium-133-Atoms gekoppelt. Die heutige Definition ist wiederum eine Verfeinerung der Festlegung von 1967. Aber es gab zumindest eine Definition, und in der Forschung und in Veröffentlichungen hielt man sich an sie. Psychologie und Psychiatrie sind Fächer ohne eine zentrale Autorität, auch wenn es viele große und kleine Chefs gibt – oder Fachvereinigungen dieser Chefs –, die versuchen, diese Autorität zu erwerben. Das Diagnostic and Sta tistical Manual of Mental Disorders, das schon seit 1952 in immer neuen Auflagen erscheint, ist ein ständiger Versuch der amerikanischen Fachvereinigung von Psychiatern, verbindliche Festlegungen über Begrifflichkeit und Diagnostik zu erzielen. Aber für Historiker ist dasselbe DSM vor allem eine so dankbare Quelle, weil darin die immer wieder wechselnden theoretischen Orientierungen und gesellschaftlichen Verhältnisse sichtbar werden, die es unmöglich machen, zu einer breiten Übereinstimmung zu gelangen. Darin liegt übrigens auch gleich eine Entschuldigung begründet. Physiker brauchen bei ihren Beratungen über die Sekunde keine Rücksicht auf die Meinung von Leuten außerhalb ihres Fachs und deren Ansichten zur Sekunde zu nehmen. In der klinischen Psychologie und Psychiatrie ist das sehr wohl der Fall: Die Vorstellung, die Klienten und Patienten sich vom Verhältnis zwischen Trauma, Unbewusstem und Verdrängen machen, ist in jeder Therapie ein bedeutsamer Faktor.
Eine Erörterung der
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