Das Buch des Vergessens
nur, weil die Analyse plötzlich abgebrochen worden war, sondern auch, weil Freud sich selbst sah als einen »jener Forscher (…), welche so glücklich sind, die unschätzbaren, wenn auch verstümmelten Reste des Altertums aus langer Begrabenheit an den Tag zu bringen«.
Anmerkung
Jede Analyse ist zu einem Teil Rekonstruktion von etwas, das unvollständig aus dem Unbewussten zum Vorschein kommt. Freud gab Ida den Namen ›Dora‹, und unter diesem Titel wurde die Fallstudie bekannt.
Dora war von ihrem Vater, Philipp Bauer, an Freud verwiesen worden, ein reicher Wiener Textilfabrikant, der sich wegen einer schon vor seiner Hochzeit eingefangenen Syphilis selbst einer Behandlung bei Freud unterzogen hatte. Dora litt unter einem hartnäckigen nervösen Husten und verlor ab und zu ihre Stimme. Als man in ihrem Zimmer einen Zettel mit einer Anspielung auf Selbstmord entdeckte, griff Bauer ein: Er brachte seine Tochter zu Freud und bat ihn: »Suchen Sie sie jetzt auf bessere Wege zu bringen.«
Anmerkung
Als Dora – herangewachsen zu »einem blühenden Mädchen von intelligenten und gefälligen Gesichtszügen«
Anmerkung
– ihre Geschichte erzählt, entsteht ein schwüles Bild sexueller Beziehungen. Die Ehe ihrer Eltern ist nicht glücklich. Bauer hatte seine Frau mit Syphilis angesteckt. Doras Eltern hatten enge Freundschaft mit dem Ehepaar K. geschlossen. Dora war viel mit Frau K. unterwegs, der sie ihre tiefsten Geheimnisse anvertraute. Zwischen Frau K. und ihrem Vater hatte sich eine Liebesaffäre entwickelt, mit der alle Beteiligten sich nach einiger Zeit abgefunden hatten. Über ihre Mutter erzählte Dora nicht viel mehr, als dass sie an einem obsessiven Reinigungszwang litt. Ihre Beziehung war wenig herzlich.
Die Probleme setzten ein, als Herr K. – später identifiziert als Hans Zellenka, ein Handelsvertreter – anfing, Dora Avancen zu machen. Er schrieb Briefe und brachte ihr Geschenke und Blumen. Als Dora dreizehn war, lud er sie ein, sich von der obersten Etage seines Geschäfts aus eine Prozession anzusehen. Aber als sie den Laden betrat, stellte sich heraus, dass alle Angestellten nach Hause geschickt worden waren und sie mit K. allein war. Nachdem er die Rollläden heruntergelassen hatte, zog er sie plötzlich an sich und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Dora entwand sich ihm und rannte davon.
Zwei Jahre später verbrachten beide Familien einen gemeinsamen Urlaub in den Alpen. Bei einem Spaziergang um einen See machte K. erneut Annäherungsversuche. Er habe nichts an seiner Frau, sagte er. Als Dora klar wurde, dass er auf eine Beziehung anspielte, gab sie ihm eine Ohrfeige. Zu Hause erzählte sie alles ihren Eltern.
Als K. zur Verantwortung gerufen wurde, nahmen die Dinge eine unglückliche Wendung für Dora. Er leugnete alles. Seiner Ansicht nach sei Dora ein von Sex besessenes Mädchen: Von seiner Frau habe er gehört, dass sie allerlei intime Fragen über ihr Liebesleben gestellt hätte und Mantegazzas Physiologie der Liebe verschlungen habe. Zu Doras Entsetzen pflichtete Frau K. ihrem Mann bei. Auch ihre Eltern glaubten Herrn K. Ihre Geschichte wurde als Mädchenfantasie abgetan. Sie bekam das Gefühl, ihr Vater habe sie K. überlassen, so wie dieser seine Frau abgetreten hatte. Von nun anverschlimmerten sich ihre Beschwerden. Im Oktober 1900 nahm Freud sie zur Behandlung auf.
Dora erhoffte sich nicht viel davon. Die früheren Arztbesuche wegen ihres Halses hatten keinerlei Besserung gebracht, und allmählich begegnete sie jedem Arzt mit kaum verhohlener Verachtung. Während der Analyse war sie vor allem darauf aus, Freud davon zu überzeugen, dass sich die Zwischenfälle mit K. wirklich ereignet hatten. Das gelang ihr: Freud war der Erste, der ihr glaubte. Er dachte, er könne sie auch von dem befreien, was er für ›hysterische Beschwerden‹ hielt, dem nervösen Husten und die Halsprobleme. Der Fall sei nicht allzu schwierig, schrieb er Fließ schon nach zwei Wochen, einer seiner ›Dietriche‹ habe das Schloss leicht aufspringen lassen.
Anmerkung
Dieser Schlüssel war die Sexualität. Wer diesen Schlüssel wegwirft, wird niemals eine Tür öffnen können.
Im Jahr davor hatte Freud die Traumdeutung veröffentlicht. Doras Analyse sollte den therapeutischen Wert der Traumdeutung beweisen. Der Traum, erläuterte er, »stellt einen der Wege dar, wie dasjenige psychische Material zum Bewusstsein gelangen kann, welches kraft des Widerstrebens, das sein Inhalt rege macht, vom Bewusstsein
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