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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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einem gesunden Mädchen« hätte die Umarmung eine »Genitalsensation« verursacht.
Anmerkung
Da aber gerade Gefühle der Abwehr entstanden seien, wäre offensichtlich eine ›Affektverkehrung‹ eingetreten, und solche Umkehrungen seien maskierte Äußerungen von Hysterie.
    Die Dora-Studie, ließ Freud Fließ wissen, »ist immerhin das Subtilste, was ich bis jetzt geschrieben«.
Anmerkung
In diesem Urteil bestätigten ihn nur wenige. Dora muss sich von all diesen Deutungen, immer wieder sexueller Art, überfallen gefühlt haben, ihr aufgedrängt von einem Mann, der ungefähr im Alter ihres Vaters und Herrn K. war.
Anmerkung
Freud schrieb ihr – unter anderem – eine lesbische Liebe für Frau K. zu, eine unbewusste Liebe für Herrn K. und eine ödipale Liebe für ihren Vater. Und weil eine Analyse darauf ausgerichtet ist, über Einsicht in die verdrängten Gefühle hysterische Symptome verschwinden zu lassen, teilte Freud all diese Weisheit mit Dora. Ihr plötzlicher Entschluss, mit der Analyse aufzuhören, verletzte Freud, aberer hatte durchaus eine Erklärung dafür: Sie musste ihn mit Herrn K. und ihrem Vater identifiziert haben. Der Abbruch der Analyse sei die Rache für das, was ihr diese beiden Männer angetan hätten. Letzteres könnte er richtig erkannt haben.
    Dora kam noch einmal zu Freud zurück, fünfzehn Monate nach ihrem abrupten Weggang. Im Mai 1901 war eines der Kinder des Ehepaars K. verstorben. Während des Beileidsbesuchs hatte Dora ein offenes Gespräch mit K. und seiner Frau geführt. Zu Frau K. hatte sie gesagt: »Ich weiß, du hast ein Verhältnis mit Papa«, und sie hatte dies nicht geleugnet.
Anmerkung
Herr K. gab zu, dass er an jenem See Annäherungsversuche gemacht hatte. Durch diese Anerkennung des Geschehenen verspürte sie eine gewisse Erleichterung. Nach diesem letzten Besuch verlor Freud sie aus den Augen.
    Rund zwanzig Jahre später, im Herbst 1922, wurde der Internist Felix Deutsch von einer Patientin mit heftigen Kopfschmerzen zurate gezogen. Deutsch gegenüber ließ sie eine ganze Litanei von Klagen über ihre unglückliche Ehe vom Stapel: Ihr Mann betrüge sie, ihr Sohn habe sie auch schon im Stich gelassen, alle Männer seien Egoisten. Sie begann von ihrer Jugend zu erzählen. Ihr Vater habe ihre Mutter betrogen, sie selbst sei vom Ehemann der Geliebten ihres Vaters belästigt worden.
    Deutsch war Freuds Leibarzt, er sympathisierte mit der Psychoanalyse und kannte seine Klassiker. Er wagte eine Anspielung. Tatsächlich, gab Ida Bauer zu, sie sei Freuds ›Dora‹.
Anmerkung
Auch sie kannte sich offensichtlich in der entsprechenden Literatur aus.
    Ihre Gesundheitsprobleme sind nie verschwunden: Hustenanfälle, Migräne, Beklemmungen. In den Zwanzigerjahren arbeitete sie als Bridgelehrerin und kam – mit Frau K. als Partnerin – bis zur Meisterklasse. Nach dem Anschluss versuchte sie, inzwischen Witwe, ins Ausland zu gehen. Das gelang erst 1939 unter Zurücklassung von Geld und Gütern. Mittellos und mit einer sich schnell verschlechternden Gesundheit lebte sie noch einige Jahre in New York. Ida Bauer starb 1945 an Darmkrebs.
    Freuds Fallstudien demonstrierten psychoanalytische Methoden und boten einem breiteren Publikum als nur Ärzten und Psychiatern einen Blick auf seine Auffassungen über Sexualität, Gedächtnis und Verdrängung. Dieses Laienpublikum hatte Freud auch ausdrücklich im Blick gehabt: Seine Fallstudien wirken nicht wie sachliche Krankengeschichten, sondern lesen sich eher wie psychologische Romane. Aber mit jeder Fallstudie präsentierte Freud auch ein Selbstporträt. Der Leser sieht ihn, während er hart an der Arbeit ist, von etwas in Anspruch genommen, das eigentlich eine Patientendemonstration ist. Er befragt den Patienten, weist auf Symptome hin, suggeriert Diagnosen, denkt laut, deutet, erklärt – und ist bei alldem viel weniger als andernorts in seinem Werk darauf bedacht, dass er selbst auch beobachtet wird. Gerade die Krankengeschichten zeigen wie ein Spiegelbild, was Freud antrieb. Der verborgene Bezug, der blinde Fleck, der verschwiegene Ausgangspunkt – sie sind einer wie der andere in den Fallstudien aufzuzeigen. In dieser Hinsicht verhüllt die Studie über Dora noch am wenigsten.
    Der Fall Dora hatte zahlreiche Kommentare zur Folge.
Anmerkung
Der französische Analytiker Jacques Lacan meinte, Freud habe sich mit dem virilen Herrn K. identifiziert und sei darum vom Abbruch der Analyse genauso überrascht wie K. von der Ohrfeige während des

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